Eine neu entdeckte Blockflötensonate mit Zuschreibung an Vivaldi
Inês d’Avena and Claudio Ribeiro
Monday, November 8, 2021
Den folgenden Beitrag haben wir von Inês d’Avena und Claudio Ribeiro erhalten:
Während eines künstlerischen Aufenthalts in Venedig im Oktober 2018 entdeckten wir in der Bibliothek des Conservatorio “Benedetto Marcello” eine Handvoll anonymer Manuskriptsonaten für Blockflöte und Basso continuo aus dem 18. Jahrhundert. Im Fondo Correr, Esposti e provenienze diverse - der unter anderem Manuskripte aus dem Ospedale della Pietà enthält - fanden wir die Sonata per Flauto in F-Dur, I-Vc Correr Busta 127.46 (RISM ID no. 850729277), von der wir sofort vermuteten, dass es sich um ein unbekanntes Werk von Vivaldi handelt. Eine CD-Aufnahme und -Veröffentlichung folgte unmittelbar [siehe Anmerkung 1], und im November 2020 waren zwei Ausgaben des Werks erhältlich (digital und im Druck) [siehe Anmerkung 2]. Unsere Recherchen und Überlegungen zur Zuschreibung dieser Sonate an Vivaldi können nun in dem Artikel “A newly discovered recorder sonata attributed to Vivaldi: considerations on authorship” [siehe Anmerkung 3] nachgelesen werden. Der Artikel stellt unsere Studie über das Papier und die Rastrographie dieser neu entdeckten Sonate vor, sowie eine vergleichende Studie von Material aus Vivaldis Werk und Correr 127.46, mit einem Blick auf die anderen Komponisten, die in irgendeiner Weise mit dem Stil von Vivaldi und dem Kontext der fraglichen Sonate verbunden sind.
Satz I, Andante
Satz II, Alleg[r]o
Satz III, Largo
Satz IV, Allegro
Kurzum, wir konnten feststellen, dass das Papier von Correr 127.46 venezianischen Ursprungs ist und zu einem von Vivaldi verwendeten Typ gehört. Es weist das typische Wasserzeichen tre mezze lune, mit der Gegenmarke “A Z”, der von einem Kleeblatt mit Stiel überragt wird auf. Wir können auch mit ziemlicher Sicherheit davon ausgehen, dass der Schreiber ein Venezianer war, der das Kopieren als Beruf ausübte. Dank der Untersuchung des Papiers und der Übereinstimmung des Querschnitts der Rastrographie mit dem einer anderen Handschrift konnten wir eine genauere Datierung des verwendeten Notenpapiers vornehmen und das Datum der Abschrift von Correr 127.46 auf ca. 1733 zurückführen.
Bereits bei unserer ersten Lektüre des Stücks hatten wir einige typische Merkmale von Vivaldis bekannten Werken festgestellt. Vivaldis kompositorische Praxis bestand darin, bereits komponiertes Material mit neuen Erfindungen zu kombinieren und so oft radikal unterschiedliche Kontexte für das gleiche oder ähnliche musikalische Material zu schaffen. Die Untersuchung der textlichen und nicht-textlichen Elemente dieses Manuskripts bestätigte in der Tat mehrere typische Merkmale von Vivaldis Idiolekt: die Verwendung spezifischer melodischer Konkordanzen in Verbindung mit der häufigen Verwendung dreiteiliger Phrasenstrukturen, die ausgiebige Verwendung der 5-6-Sequenz (mit wenig oder gar keiner Variation und einschließlich eines melodischen Abstiegs zur führenden Note in der oberen Zeile am Ende), oft kombiniert mit Arpeggiation, ein einfacher treibender Bass, der die Struktur formt und eher rhythmische und harmonische Unterstützung als kontrapunktisches Zusammenspiel beiträgt, und die ausgearbeitete Verlängerung des Schlussakkords eines Abschnitts usw. Die empirischen Beobachtungen, die wir anfangs gemacht hatten, werden durch eine große Anzahl von Konkordanzen und Parallelen mit Werken von Vivaldi untermauert: Correr 127.46 weist Ähnlichkeiten und über hundert Konkordanzen mit Werken auf, die zwischen 1700 und 1740 datiert sind, ein Zeitraum, der Vivaldis gesamte Karriere umfasst. Eine beachtliche Auswahl dieser Konkordanzen wird in dem Artikel exemplarisch vorgestellt - darunter, neben vielen anderen, die RVs 178, 429, 758 und 806. Wenn wir Correr 127.46 mit all seinen stilistischen Merkmalen in das Oeuvre Vivaldis einordnen, gehen wir davon aus, dass es sich wahrscheinlich um eine Komposition der 1710er Jahre handelt, die in den 1730er Jahren kopiert wurde.
Konkordanzen mit RV 178 und 429:
Konkordanzen mit RV 758:
Konkordanzen mit RV 806:
Bevor ich zum Schluss komme, möchte ich noch einen Blick auf mögliche andere Komponisten als Vivaldi für Correr 127.46 werfen. Vivaldi war natürlich tief in das Gefüge seiner Zeit eingebettet, und das gilt auch für sein musikalisches Werk. Er war jedoch auch ein großer Erneuerer mit einer starken musikalischen Persönlichkeit, und seine Werke und der Geist seiner Musik wurden in großem Umfang paraphrasiert, kopiert und plagiiert, als sein Ruhm durch Europa schwappte. Für die Zuschreibung von Correr 127.46 an Vivaldi wurde die Diskussion auf die wenigen Komponisten beschränkt, deren Stil starke Ähnlichkeiten mit Vivaldi aufweist und deren überliefertes Werk Sonaten umfasst, um einen möglichst direkten stilistischen Vergleich anstellen zu können. Aspekte der Kompositionsstile, die in den Sonaten von Diogenio Bigaglia, Gaetano Meneghetti und Ignazio Sieber zu beobachten sind, werden mit dem, was bei Vivaldi im Allgemeinen zu beobachten ist, und mit den in Correr 127.46 beobachteten Besonderheiten kontrastiert, um zu verdeutlichen, warum Vivaldi der plausibelste Komponist für diese Sonate ist, und um zu zeigen, warum wir an unserer Zuschreibung festhalten.
Voorburg, 25 Oktober 2021
Anmerkungen:
[1] Anonimo Venexian (RAM 1905), released by Ramée/Outhere Music in 2019.
[2] ‘Sonata per flauto’, ed. Inês d’Avena and Claudio Ribeiro, Oatbrook Editions, Venezia Series SP, AR 20.02 (digital edition). It is also available in print: ‘ANTONIO VIVALDI, Sonate diverse, RV 28, 52, 53, 798, 810, 815, 816, 820, anonima’, in Vivaldi Instrumental Opera Omnia, ed. Olivier Fourés, Ars Antiqva, Madrid, 2020 (ISMN 979-0-805441-15-3).
[3] Inês de Avena Braga, Claudio Ribeiro: “A newly discovered recorder sonata attributed to Vivaldi: considerations on authorship”, Recercare, vol. 33 (Summer, 2021), pp. 121-161. We also presented a summary of our findings at the 19th Biennial International Conference on Baroque Music in Birmingham, and will present it at the 10th Meeting on Research in Music in Coimbra.
Incipits der Blockflötensonate aus dem RISM Katalog; weitere Abbildungen mit freundlicher Genehmigung der Autoren.
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