Drei venezianische Handschriften - Original oder Fälschung?
Thursday, October 28, 2021
Die Biblioteca Nazionale Marciana in Venedig (I-Vnm) bewahrt drei wunderschön gestaltete Handschriften Cod. It. IV, 740 (=10313) (RISM ID no. 850699985), Cod. It. IV, 742 (=10318) (RISM ID no. 850701873) und Cod. It. IV, 743 (=10317) (RISM ID no. 850702408) mit Sololiedern und Arien auf. Die Werke stammen von italienischen Komponisten des 17. Jahrhunderts. Erstaunlicherweise wurden die Handschriften bisher von der Wissenschaft kaum beachtet. Insgesamt sind es 61 Werke aus der Zeit von 1600 bis 1678 von 26 italienischen Komponisten.
Der Online-Katalog der Biblioteca Marciana listet die Handschriften mit dem Entstehungsdatum 17. Jahrhundert auf (siehe Cod. It. IV, 740, Cod. It. IV, 742 und Cod. It. IV, 743), ebenso der Catalogo nazionale dei manoscritti musicali. In mehreren wissenschaftlichen Beiträgen sowie in einigen thematischen Katalogen werden sie als Quellen bzw. Konkordanzen des 17. Jahrhundert herangezogen.
Marica S. Tacconi hat sich nun eingehend mit diesen Musikhandschriften beschäftigt und schildert ihre beeindruckenden Ergebnisse in einem Aufsatz, der kürzlich erschien:
Marica S. Tacconi, Three Forged “Seventeenth-Century” Venetian Songbooks: A Cautionary Tale., in: Journal of Seventeenth-Century Music 27, no. 1 (2021). RISM-Kurztitel: TacconiV 2021.
Ihre Nachforschungen haben ergeben, dass es sich um sehr gelungene Fälschungen handelt, die zwischen 1912 und 1916/17 hergestellt wurden. Während die Musik, die sie bewahren, authentisch ist, sind die eigentlichen Bücher das Werk eines oder mehrerer Fälscher, die in Zusammenarbeit mit mehreren Schreibern und Illustratoren außergewöhnliche Anstrengungen unternommen haben, um die Bände echt erscheinen zu lassen.
Tacconi beschreibt in dem hochinteressanten Beitrag die drei venezianischen Handschriften sehr detailliert - was den Inhalt als auch die Ausstattung betrifft - und legt schlüssige Beweise vor, dass die Manuskripte tatsächlich gefälscht sind. Am auffälligsten erscheint, dass der dritte bis sechzehnte Eintrag in der Handschrift Cod. It. IV, 740 in der gleichen Reihenfolge stehen, wie die Beispiele auf den Seiten 156 bis 300 des ersten Bandes in Hugo Goldschmidts Studien zur Geschichte der italienischen Oper im 17. Jahrhundert (Leipzig, 1901). Ebenso verweist sie auf Schreibfehler aus den Handschriften, die in moderne Editionen eingeflossen sind.
Oberflächlich betrachtet scheinen die Handschriften echt zu sein, doch in ihrem Kern sind sie gefälscht. Auf den ersten Blick scheint dies keine Rolle zu spielen, da es sich um authentische Kompositionen handelt. Nur wenn sie als authentische venezianische Produkte des 17. Jahrhunderts betrachtet werden, könnte man vermuten, dass florentinische und römische Komponisten bereits im 17. Jahrhundert in Venedig verbreitet waren.
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