"El Libro Sesto" - Eine Musikhandschrift als Zeugnis zur Kolonialgeschichte in Chile

Thursday, February 25, 2016

Die chilenische Nationalbibliothek in Santiago (RCH-Sbnc) verwahrt seit Januar 2014 eine seltene Musikhandschrift, die ca. 1790 entstanden ist. Sie war ein Geschenk der Erben des chilenischen Musikwissenschaftlers Guillermo Marchant Espinoza (1950-2009), der sie bei einem Hausabbruch aus dem Schutt gerettet hat. Die Handschrift ist als Libro sesto bezeichnet, woraus zu entnehmen ist, dass wenigstens fünf weitere solcher Handschriften existiert haben müssen, die aber bisher nicht aufgefunden werden konnten.

Wie die Ankündigung der Übergabe des Buches vermeldet, ist das Libro Sesto “eines der wenigen Zeugnisse der Kolonialinstrumentalmusik auf unserem (dem amerikanischen) Kontinent.“ Es enthält 165 Stücke für Klavier und/oder Orgel, die die schwarze Sklavin Maria Antonia Palacios für den eigenen Gebrauch abgeschrieben hat. Sie war nämlich in Haus und Kirche ihrer Herrin für die Musik zuständig.

Marchant Espinoza hat das Buch ausführlich in der Revista musical chilena beschrieben: Es besteht aus 186 Seiten (98 folio) im Format 28,6 x 20,2 cm.

Von den 165 Stücken sind 72 anonym überliefert, 93 tragen einen Komponistennamen. Die meisten, nämlich 29 Stücke sind von Juan Capistrano Coley y Embid, ein spanischer Komponist, der sich 1787 erfolglos als Organist in Pamplona beworben hat und danach bis 1796 in Viana, Zaragossa und am Stift Valpuesta nachweisbar ist. Dann verliert sich seine Spur. An weiteren Komponisten sind genannt: Juan de Lambida, Pedro Perez, Palazin oder Palarin, Procíoli [von Espinoza identifiziert als Giambattista Grazioli, Organist in Venedig] und dem als Professor für Orgel und Organist in Madrid bezeichneten Vincente Joachín Castillion. Dieses anscheinend spanisch italienisch ausgerichtete Repertoire enthält aber überraschender Weise Kompositionen von zwei mehr nördlichen Komponisten: Haydn und Pleyel. Von Joseph Haydn ist es der erste Satz der Klaviersonate C-Dur Hob.XVI:35. Von Pleyel enthält die Handschrift sechs Menuette und zwei Märsche für „Salterio“, die möglicherweise Bearbeitungen sind. Im Verzeichnis der Werke Ignace Pleyels von Rita Benton, Ignace Pleyel: A Thematic Catalogue of his Compositions (New York: Pendragon Press, 1977) konnten sie nicht nachgewiesen werden.

Interessant immerhin, wie schnell die Werke von Europa nach Chile gekommen sind. Nach Hoboken ist die Sonate von Haydn vor 1780 entstanden. So könnte sie innerhalb ca. 10 Jahren so verbreitet gewesen sein, dass sie sogar in Santiago abgeschrieben wurde.

Die Handschrift wird gerade in die RISM Datenbank eingegeben (RISM ID no. 390000001). Möglicherweise können dabei einige anonyme Werke noch identifiziert werden. Den Katalogeintrag zum Libro sesto auf der Website der Biblioteca Nacional de Chile können ebenso einsehen.

Hier finden Sie eine Aufführung, die während der Übergabe der Handschrift 2014 an die Bibliothek stattfand. Das Ensamble Alta Voce spielt Ausschnitte aus dem Libro sesto.

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Kategorie: Pressespiegel


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