“Weihnachten” von Engelbert Humperdinck
Balázs Mikusi
Thursday, December 18, 2025
In den letzten zwei Jahren haben wir Ihnen zum Jahreswechsel musikalische Grüße präsentiert: einen kleinen Chor von Carl Eberwein aus der Sammlung der Berliner Sing-Akademie und eine verspielte Vokalbagatelle von Luigi Cherubini, die offenbar seinem Freund Alexandre-Charles Sauvageot, einem berühmten Sammler von dekorativen Kleinigkeiten, gewidmet war.
Zur Abwechslung möchten wir Sie dieses Jahr auf ein Weihnachtslied von Engelbert Humperdinck (1854–1921) aufmerksam machen. Humperdinck ist vor allem für seine Oper Hänsel und Gretel bekannt, die am 23. Dezember 1893 im Weimarer Hoftheater uraufgeführt wurde – übrigens unter der Leitung von Richard Strauss. Seitdem ist das Werk ein echter „Weihnachtsklassiker” geblieben, obwohl das Libretto selbst keinen direkten Bezug zum Dezemberfest hat. Die Rettung der hungrigen Kinder durch göttliche Intervention (zumindest in der Version der Brüder Grimm) sowie die Lebkuchen, aus denen die Hütte der Hexe gebaut ist, sorgen jedoch durchaus für Weihnachtsstimmung. Außerdem wissen wir, dass die Idee zu einer vollwertigen Oper zu diesem Thema aus einem bescheidenen Wunsch von Adelheid Wette (der Schwester des Komponisten) entstand: Sie wollte einige Lieder für ein kleines Hänsel-und-Gretel-Stück vertonen lassen, das sie im Familienkreis aufführen wollte. Adelheid wird allgemein als die Hauptlibrettistin auch der Oper Hänsel und Gretel ihres Bruders angesehen, obwohl der Komponist selbst angab, dass sich das Libretto-Projekt im Zuge der Erweiterung der ursprünglichen Idee zu einem Singspiel und schließlich zu einer vollwertigen Oper allmählich zu einem groß angelegten „Familienübel“ mit wesentlichen Beiträgen von Hermann Wette (Adelheids Ehemann), Gustav Humperdinck (dem Vater des Komponisten) und Engelbert selbst entwickelt habe.
Die Inspiration durch die literarischen Experimente seiner Familie war jedoch für Humperdinck allgemein charakteristisch. Viele seiner Lieder wurden zu Texten komponiert, die ihm von nahen Verwandten angeboten wurden, darunter auch ausdrücklich weihnachtliche wie Der Stern von Betlehem (EHWV 114), das am 9. Dezember 1900 nach einem Text seiner Frau Hedwig vertont wurde, oder das Weihnachts-Kinderliedchen (EHWV 113), das für Weihnachten 1899 geschrieben wurde, ebenfalls nach einem Text von Adelheid. Das lakonisch mit Weihnachten betitelte Stück (EHWV 111) entstand noch ein Jahr zuvor in Boppard am Rhein. Das Autograph (RISM Catalog) | RISM Online) wird heute in unmittelbarer Nähe seines Entstehungsortes, im Landesbibliothekszentrum Rheinland-Pfalz in Koblenz, aufbewahrt (digitalisierte Kopie hier verfügbar). Auf dem Titelblatt wird erneut die Schwester des Komponisten als Autorin des Textes genannt und auf den optionalen Chor am Ende hingewiesen. Nach dem Schlussakkord ist auch das genaue Entstehungsdatum zu finden: der 7. Dezember 1898.
In Anlehnung an den Stil von Humperdincks zweiter Liederperiode (1898–1907) zeigt Weihnachten eine deutliche Tendenz zu einfacheren Melodien, die den “Schein des Bekannten” hervorrufen. Dieser Begriff wurde ein Jahrhundert zuvor von Johann Abraham Peter Schulz geprägt. Es wirkt, als stamme die Melodie aus einem Volkslied (für eine moderne Transkription des Autographs von Christian Hesse hier klicken). Die Vorstellung, dass der Anfang manche an „Where Have All the Flowers Gone“ erinnern könnte, ist natürlich illusorisch, da Pete Seegers Antikriegslied erst in den 1960er Jahren zu einem Klassiker wurde. Der Eindruck, dass Humperdinck nur wenige Takte später die Phrase „Nimm’ sie hin denn, diese Lieder“ aus Beethovens Zyklus „An die ferne Geliebte“ heraufbeschwört, um die Worte „schlinget neue Liebesbande“ zu untermalen, könnte jedoch mehr als eine Illusion sein, nämlich eine bewusste Anspielung. Schließlich hatte die Bezugnahme auf diese Beethoven-Melodie bereits eine lange Tradition, beispielsweise in Robert Schumanns Werken (am bekanntesten in seiner Sinfonie Nr. 2 und der Klavierfantasie op. 17). Vielleicht waren solche Bezüge in der Familie Humperdinck allgemein bekannt, sodass die Wiederaufnahme des Zitats als Insiderwitz fungieren konnte. Auf jeden Fall scheinen im Fall von Schumann mögliche Hinweise auf seine „ferne Geliebte” (nämlich Clara) durchaus Sinn zu ergeben, und Humperdincks Einbettung einer intertextuellen „Randbemerkung” in eine Vertonung des Textes seiner Schwester, die so viel bedeutet wie „Nimm’ sie hin denn, diese Lieder”, mag uns ebenso bedeutungsvoll vorkommen.
Obwohl Humperdincks Lied ursprünglich für Gesang und Klavier komponiert wurde, wirkt es mit Orchesterbegleitung unweigerlich festlicher, insbesondere wenn wir gleichzeitig einen exklusiven Blick ins Innere der berühmten Dresdner Frauenkirche werfen dürfen:
Ein kleines, aber bemerkenswertes Detail in Humperdincks Vertonung ist, dass die Phrasenstruktur des Liedes zwar im Wesentlichen symmetrisch ist, das gesamte Stück jedoch um einen halben Takt verschoben notiert ist. Da wir zu Beginn dreimal dasselbe Motiv hören (zweimal nur in der Begleitung und dann auch in der Gesangsstimme), ist dieser Offbeat-Charakter nicht sehr ausgeprägt. Der Gesamteindruck ist eher schwebend und es gibt während eines Großteils des Liedes keine größeren Veränderungen. Zwar beschleunigt die Musik in der zweiten Strophe („Und schon hat mit tausend Sternen“) leicht, doch kehrt sie in der dritten Strophe („Lichte Himmelsboten“) in der Mitte eines Takts zum Anfangstempo zurück (wenngleich sowohl die Figurierung der Begleitung als auch die Gesangsmelodie eine gewisse Variation bieten). Erst der abschließende Vokalschluss bringt auch in metrischer Hinsicht eine Auflösung, wenn die chorale Wiederholung der vorangegangenen Zeilen des Solisten unerwartet eine Wendung nimmt. Humperdinck fügt dem Wort „allen“ eine halbe Takteinheit hinzu (Takt 62, notiert als voller Takt in 2/4), während er gleichzeitig den Rest der Kadenz auf einen vollen 4/4-Takt verlängert. Dadurch landet die letzte Silbe „sein” auf einem Abschlag – so setzt das Anfangsmotiv endlich nicht mehr außerhalb des Takts ein. Durch diese metrische Anpassung wird die Aufmerksamkeit besonders auf den Wortwechsel gelenkt, denn das „Herzen” des Solisten wird hier durch „Menschen” ersetzt. Dies macht die Kadenz umso eindrucksvoller und erinnert jeden Zuhörer daran, dass der Komponist zwar den “Schein des Bekannten” erwecken will, dabei aber auch raffinierte strukturelle Details im Auge behält, die weit über jede proklamierte Volksliedästhetik hinausgehen.
Abschließend sei noch erwähnt, dass Humperdincks Lied auch außerhalb Deutschlands eine gewisse Popularität erlangt hat, und zwar in den englischsprachigen Ländern mit einem Text von John Bernhoff, der in mehreren Punkten ziemlich weit vom Original von Adelheid Wette abweicht:
1.
Hark! The herald host is singing,
Thro’ the silent holy night,
Tidings of great joy they’re bringing,
From yon starry azure height.
And each heart is filled with gladness,
At the message which they bring;
“Christ is born, forget all sadness,
Trust in Him, your Savior King!”
2.
And behold the stars bright glowing,
Shed o’er earth their radiant light,
While from Angels’ lips are flowing
Anthems thro’ the holy night.
Bright each window now is glowing,
Lighted by the Christmas tree;
And each cheek with joy is glowing,
And each heart is filled with glee.
3.
Soft the messengers from heaven
Wing their flight from home to home;
Bearing lessons God hath given
Unto all the earth that roam.
“Welcome, welcome Christmas evening
Bringing peace and love to earth!”
Show your gratitude, rejoicing,
Christians in your Savior’s birth!
Abbildung: Engelbert Humperdinck (1854-1921), Portrait via Deutsche Fotothek.
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