Zum neuen Jahr nach altem Brauch
Thursday, December 21, 2023
Kurz vor dem Jahresende möchten wir Sie auf einen musikalischen Neujahrsgruß von vor über zwei Jahrhunderten aufmerksam machen.
Die wertvolle Sammlung der Berliner Sing-Akademie (D-Bsa), die während des Zweiten Weltkriegs verschollen war, wurde 1999 von Christoph Wolff (später auch Präsident des RISM) im Archiv für Literatur und Kunst der Ukraine in Kiew wiederentdeckt. Zwei Jahre später wurde die Sammlung dank der raschen Entscheidungen des damaligen ukrainischen Präsidenten Leonid Kutschma und des ukrainischen Parlaments an ihren rechtmäßigen Eigentümer, den Verein Sing-Akademie zu Berlin, zurückgegeben und steht seitdem als Depositum in der Staatsbibliothek zu Berlin der Forschung zur Verfügung. Die inzwischen in RISM katalogisierte Sammlung enthält zahlreiche Schätze, insbesondere zur Familie Bach, aber auch weniger bekannte Stücke, die für die Entwicklung der Sing-Akademie selbst oder die Geschichte der Vokalmusik in Deutschland im Allgemeinen von Interesse sind.
Eines dieser weniger erforschten Dokumente ist eine Musikhandschrift (RISM Catalog | RISM Online) mit sechs mehrstimmigen Liedern von Carl Eberwein (1786-1868), einem Komponisten, der vor allem durch seine langjährigen Kontakte zu Goethe bekannt ist, in dessen Weimarer Haus er für die Hausmusik verantwortlich war. Ob das sauber geschriebene Manuskript von Eberweins eigener Hand stammt, ist schwer zu sagen, auch wenn einige offensichtliche Korrekturen in der Partitur eine solche Hypothese zu bestätigen scheinen. Auf jeden Fall erinnert die gesamte Folge an eine gesellige Aufführungstradition, bei der die persönliche Beteiligung des Komponisten als selbstverständlich vorausgesetzt werden kann: Die Texte feiern typischerweise festliche Anlässe oder loben das Trinken und haben dementsprechend zu Vertonungen geführt, die nachdrücklich alle Mitglieder einer fröhlichen Gesellschaft zum Mitsingen einladen.
Das letzte Stück der Sammlung, das (wie der Titel deutlich macht) “Zum Neujahr 1811” geschrieben wurde, ist keine Ausnahme. Während es (im Gegensatz zum Rest des Manuskripts) eine aufwendige Klavierbegleitung bietet, bleibt es der beliebten “Rundgesang”-Tradition der Zeit treu, indem jede Strophe von einer Solostimme gesungen wird und dann der gesamte Chor für die (textliche) Wiederholung des Refrains einsetzt - abgesehen von der letzten Strophe, in der die Rolle des Solisten von einer Gruppe von vier Solisten übernommen wird, um einen möglichst effektiven Abschluss zu gewährleisten. Dieser kompositorische Kontrast erscheint heute so angemessen wie vor zwei Jahrhunderten, und dasselbe gilt für den Text, der keinerlei Anspruch auf hohe Poesie erhebt, sondern eine Reihe von freundlichen Grüßen bietet, die wir gerne an unsere eigenen “Gäste” weitergeben - das heißt an jeden Nutzer des RISM:
Zum neuen Jahr nach altem Brauch,
Da wünscht man sich das Beste;
Wir Sänger wünschen’s billig auch
Für unsre theuren Gäste.
Sie haben uns beÿ Spiel und Sang
Ein günstig Ohr gegeben,
Drum sollen sie mit Sang und Klang
So heut wie immer leben.
Dann wünschen wir im neuen Jahr
Was uns gefehlt im alten,
Doch was im Alten gutes war,
Das möchten wir behalten.
Die Liebe sucht wohl gern was neu,
Die Treue hält am alten,
So laßt uns dann mit Lieb’ und Treu’
Am alt und neuen halten.
Man sagt ja, daß der neuste Sang
Am meisten stets gefalle,
O wenn es dem nur halb gelang,
Sind wir belohnt für alle.
Abbildung: Carl Eberwein, Lieder für mehrere Stimmen, D-Bsa SA 932, RISM ID no. 469093200 (RISM Catalog | RISM Online),
Public Domain Mark 1.0
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