Vivaldi und die Suchmaschine
Michael Talbot
Friday, August 23, 2013
Ein Gastbeitrag von Michael Talbot (Liverpool, UK)
Wer mein Alter (siebzig) erreicht hat und parallel mit RISM in den verschiedenen Phasen seines und seiner Entwicklung „groß geworden“ ist, weiß wovon ich rede. Vor allem, seit der Übertragung der Handschriften-Datenbank in einen OPAC im Internet, hat die Möglichkeit Entdeckungen zu machen, sei es durch glückliche Zufälle oder durch gezielte „Schleppnetzfischerei“ sprunghaft zugenommen. Die jüngste Ergänzung der bestehenden Textincipitsuche um eine Suchmaschine für Notenincipits stellt den neuesten Sprung nach vorn dar und ist ein Hilfsmittel, von dem ich bereits stark profitiert habe. Erst vor ein paar Monaten habe ich diese Suchmaschine benutzt und zwei weitere Quellen zu zwei Konzerten von Vivaldi entdeckt. Eine genaue Beschreibung und Bewertung der beiden Entdeckungen ist in meiner Miscellanea-Kolumne im Jahrbuch Studi vivaldiani von 2012 (Band 12) veröffentlicht.
Das Vorgehen war, dass ich die Incipits von Vivaldi-Konzerten, für die ich mich besonders interessierte, eingegeben habe, um herauszufinden, ob es vielleicht Übereinstimmungen gibt, die der Vivaldi-Community bisher unbekannt waren. Die Eingabe ist ein sehr schneller Prozess, der noch beschleunigt wird durch den genial einfachen Mechanismus, bei dem die Vorzeichen ignoriert, “B” und “H” gleich behandelt und Transpositionen - wenn gewünscht - automatisch berücksichtigt werden. Die Suchmaschine ist somit ideal für eine völlig spekulative Suche. Zu meiner Freude, erzielte ich ich einen “Treffer” zu Vivaldis Violinkonzert in D-Dur (RV 206), von dem die bisher einzig bekannte Quelle ein Manuskript aus der Landesbibliothek Mecklenburg-Vorpommern in Schwerin (RISM no. 240005255), war, welche - da es sich um ein peripheres Repertoire handelt - ein leichtes Fragezeichen auf die Urheberschaft legt, obwohl der Komponist eindeutig benannt ist. Die neue Quelle stammt aus der Sächsischen Landesbibliothek - Staats- und Universitätsbibliothek (SLUB; RISM no. 212001661), die zum Glück die Quelle digitalisiert hat, so dass eine sofortige und genaue Prüfung möglich war. Die Dresdner Quelle wird interessanterweise einem jüngeren Komponisten zugeschrieben: Alberto Gallo, der scheinbar zu Vivaldis Umkreis in den Jahren um 1710 gehörte und dessen Stil, wenn auch weniger verfeinert, sicherlich auf Vivaldis Stil aufbaut. Durch diesen Umstand glaube ich, dass die bestehende Zuschreibung an Vivaldi, in Schwerin, (weitgehend aus stilistischen Gründen) aufrechterhalten werden sollte. Die neue Quelle wirft aber interessante Fragen auf und wird natürlich eine wertvolle Ergänzung darstellen, wenn und falls es zu einer neuen, kritischen Ausgabe dieses Konzerts kommen sollte.
Der andere Fund war weniger erwartet. Die Dresdner Sammlung von Vivaldis Konzerten und Sonaten, die größtenteils auf die Sammlung, die der zukünftige Hofkonzertmeister Johann Georg Pisendel 1717 und in den Folgejahren zusammengetragen hat, zurückgeht, enthält die Partitur eines feinen d-Moll-Konzerts von Vivaldi (RV 241), die als einzige Quelle angesehen wurde (RISM no. 212000154). Stellen Sie sich meine Überraschung vor, in der Datenbank einen anonym überlieferten, unvollständigen Stimmensatz (ohne die wichtige Violinstimme) zu dem gleichen Konzert in der weit abgelegenen Bibliothek der Kathedrale von Durham (England) (RISM no. 806927569) aufgelistet zu finden. Die Herkunft dieser neuen Quelle ist derzeit unklar (einige Hinweise sind in meiner Diskussion in Miscellanea gegeben), aber wieder einmal kann der neue Notentext selbst sofort benutzt werden. Da er praktisch völlig mit dem der Quelle in Dresden übereinstimmt, steht fest, dass es in letzterem keine Eingriffe Pisendels gibt. (Es sollte erwähnt werden, dass Pisendel ein eingefleischter, stillschweigender Arrangeur der Musik war, die er erworben und kopiert, oder durch andere hat kopieren lassen, so dass die Unversehrtheit keines Vivaldi-Manuskript in der Dresdner Sammlung a priori angenommen werden kann.)
Schließlich möchte ich im Namen der weltweiten Vivaldi Community RISM für die Einführung dieser neuen Suchverfeinerung danken, durch die anonym überlieferte Werke identifiziert oder alternative Zuschreibungen und ihre Quellen offen gelegt werden. Sein Ertrag für die Vivaldi-Studien wird für unzählige andere Komponisten wiederholt sein, da bin ich mir sicher.
Bildnachweis: Sächsische Landesbibliothek - Staats- und Universitätsbibliothek Dresden, Mus.2727-O-1, digital.slub-dresden.de/ppn319351513
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