„… eines der größten Genies, die ich je gekannt habe…“: Der Komponist Joseph Martin Kraus

Wolfram Enßlin

Thursday, March 17, 2022

Dieser Beitrag stammt von Wolfram Enßlin, erschien zuerst im Carus-Blog und wird hier mit freundlicher Genehmigung wiederabgedruckt.

„Welcher Verlust ist nicht dieses Mannes Tod. Ich besitze von ihm eine Sinfonie, die ich zur Erinnerung an eines der größten Genies, die ich je gekannt habe, aufbewahre.“

Kein Geringerer als Joseph Haydn sagte dies über Joseph Martin Kraus, einen der interessantesten und spannendsten Künstlerpersönlichkeiten in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, der aufgrund der nahezu gleichen Lebensdaten wie Mozart auch als der „badische“ bzw. „Odenwälder Mozart“ bezeichnet wird. Bei der von Haydn angesprochenen Sinfonie handelt es sich um die Sinfonie c-Moll VB2 142 (VB2 = 2. Auflage des Kraus-Werkverzeichnisses nach Bertil van Boer 1998), in der Tat eine der faszinierendsten und packendsten sinfonischen Kompositionen und stilistisch sehr stark noch der Epoche des Sturm und Drangs verbunden, wie überhaupt Kraus in seinem Wesen und in seinem Künstlertum ein Mann des Sturm und Drangs war. Auch wenn sich in den letzten knapp 30 Jahren (seit dem 200. Todesjahr 1992) doch Einiges getan hat in Sachen Joseph Martin Kraus, nicht zuletzt durch die phänomenale Einspielung seiner Sinfonien durch Concerto Köln, so gilt Kraus weiterhin allenfalls als Geheimtipp in der Musikszene, sowohl in der Praxis als auch in der Wissenschaft.

Wird er aufgrund seiner Lebensdaten naheliegender Weise immer wieder mit Mozart verglichen, so enden hier aber auch schon fast die Ähnlichkeiten. Allenfalls, dass beide als ihre letzte Komposition eine herausragende Trauermusik hinterließen, bei Mozart dessen unvollendetes Requiem d-Moll KV 626, bei Kraus die Trauermusik für die Trauerfeierlichkeiten König Gustavs III. von Schweden nach dessen Ermordung auf dem Maskenball, bei dem Kraus selbst anwesend war: bestehend aus der Trauersinfonie c-Moll VB2 148, deren 1. Satz mit markerschütternden Paukenschlägen einsetzt und die aus vier langsamen Sätzen besteht, sowie die zweiteilige Trauerkantate VB2 42 in schwedischer Sprache, zu der inzwischen aber auch Fassungen in deutscher Sprache existieren.

Joseph Martin Kraus, am 20. Juni 1756 im fränkischen Miltenberg/Main geboren, war kein Wunderkind wie der um wenige Monate ältere Mozart. Doch zeigten sich auch bei Kraus schon in jungen Jahren als Lateinschüler im Odenwälder Städtchen Buchen, wo sein Vater inzwischen als Amtsmann für den Mainzer Kurfürsten fungierte, besondere musikalische Anlagen, seien sie im Singen oder auch im Violinspiel. Aufgrund dieser besonderen musikalischen Begabung erhielt Kraus, den die Eltern 1768 ans Jesuitengymnasium nach Mannheim geschickt hatten, einen Freiplatz als Kostgänger im dortigen Musikseminar Aloysianum. Eng war der Kontakt zwischen dem Musikseminar und Mitgliedern der damals berühmten Mannheimer Hofkapelle. So erhielt Kraus u.a. Kompositionsunterricht von Abbé Vogler und komponierte in dieser Zeit seine ersten musikalischen Werke. Dennoch führte sein Weg keineswegs linear ins Berufsmusikantentum. Dem Willen seines Vaters zufolge sollte Joseph Martin in dessen Fußstapfen treten. Daher studierte er ab 1773 in Mainz und dann kurz darauf in Erfurt Philosophie und Jura. Auch wenn er sein Studium mit ernsthaftem Eifer betrieben hat, so vernachlässigte er in dieser Zeit nicht die Musik. Aus seiner Erfurter Zeit stammt seine erste überlieferte kirchenmusikalische Komposition, sein Miserere c-Moll VB2 4, in dem Kraus seine vielseitige musikalische Ausdrucksweise auf hohem kompositorischen Niveau offenbarte. Kaum zu glauben, dass es sich um ein Erstlingswerk handeln soll.

Dann trat ein Ereignis ein, das Kraus‘ Studienzeit jäh unterbrechen sollte. Infolge von Verleumdungen wurde seinem Vater 1776 der Prozess gemacht, weshalb dieser bis zur Urteilsverkündung von seinem Amt suspendiert wurde. Dies hatte zur Folge, dass er seinem Sohn vorerst nicht weiter das Studium finanzieren konnte. Joseph Martin Kraus kehrte zu seiner Familie nach Buchen zurück und blieb dort für ein Jahr. Kraus blieb in dieser Zeit nicht müßig. Vielmehr haben wir diesem Umstand zahlreiche kirchenmusikalische Werke zu verdanken, die Kraus für seine Buchener Kirchgemeinde komponierte: So sein Requiem d-Moll VB2 1, ein höchstbeachtliches halbstündiges Werk, mit häufig sehr kurzen, prägnanten Sätzen unter Auslassung einiger Textteile der Sequenz zwischen „Dies irae“ und „Lacrymosa“ oder aber das Oratorium Der Tod Jesu VB2 17, zu dem Kraus auch den Text geschrieben hatte. Denn Kraus besaß auch beachtliche literarische Qualitäten, weshalb er selbst zwischenzeitlich im Unklaren war, ob er seine eigene Zukunft als Komponist oder als Dichter sah. So hatte er zu Beginn seines Studiums einige heute nicht mehr erhaltenen Schäfergedichte zum Druck gebracht. In seinem Drama Tolon verarbeitete er 1776 die Ereignisse um den Prozess seines Vaters. Und 1777 erschien anonym seine Schrift Etwas von und über Musik fürs Jahr 1777, in dem er pointiert und impulsiv seine eigene Musikästhetik verdeutlichte und hier wieder als typischer Vertreter des Sturm und Drangs in Erscheinung trat. Scharf kritisierte er etwa die gängige Kirchenmusikpraxis, die musikalischen Messen wenig inhaltsbezogen, dafür vor allem prachtverherrlichend zu vertonen und sparte dabei auch nicht mit Hohn: „Vor dem ersten Kyrie gieng eine rauschende Ouvertüre mit Trompeten und Pauken her – drauf fiel der Kor [sic!] mit aller Force jauchzend hinein, und damit ja nichts gespart würde, die Sache zu verherrlichen, so hatte der Organist alle seine Register losgelassen, und bei jedem Griff brauchte er alle seine zehn Finger. Schmidt, Holzbauer, Brixi, Schmidt in Mainz haben Missen geliefert: Sezt andre Worte darunter, so könnt ihr Operettchen draus machen. Man nehme die mehr solid (wie man’s nennt!) gearbeitete Sachen des Waßmuts, Pögels, Richters, des großen Fux, Gaßmanns – Wozu braucht man ein blosses Amen etliche hundertmal zu wiederholen? Soll die Musik in den Kirchen nicht am meisten fürs Herz seyn? Taugen darzu Fugen?“

Dabei besaß für Kraus die Fuge, wohl in seiner instrumentalen Form, einen besonders hohen Stellenwert – sofern sie kunstvoll umgesetzt wurde. So schrieb er über sie an anderer Stelle „O – du Diamant des harmonischen Verstandes – du Quelle der Empfindungen – dein ist die Macht, den Kenner himmelan zu entzücken, und dem Liebhaber die Augen angelweit aufzusperren oder gar einzuschläfern!“, um sich dann über die kanonische Doppelfuge zu äußern: „Du, du bis das Meisterstück der Natur.“

Kraus nahm zwar nach seiner einjährigen Auszeit sein Studium der Rechtswissenschaften wieder auf und setzte dieses in Göttingen fort. Dort stand er auch dem sog. Göttinger Hain-Bund sehr nahe. Doch immer mehr reifte in ihm der Entschluss, verstärkt durch die Erfahrungen mit der zeitweiligen Amtsenthebung seines Vaters, nicht die Beamtenlaufbahn einzuschlagen, sondern das Wagnis einzugehen, Musiker zu werden. Hier führte sein Weg 1778 nach Stockholm, wohin er seinen schwedischen Freund Carl Stridsberg begleitete. Nach drei Hungerjahren gelang es ihm endlich, dank des Erfolges seiner Oper Proserpin, den königlichen Kapellmeisterposten zu erlangen. Elf künstlerisch hoch erfüllte Jahre sollten Kraus noch bis zu seinem Tod am 15. Dezember 1792 infolge seiner langjährigen Lungenkrankheit vergönnt sein, in denen er fast fünf Jahre davon im Auftrag des Königs von 1782 bis 1786 eine Reise in die wichtigsten Musik- und Theaterzentren Europas unternahm, um dann von diesen Erfahrungen ausgehend das musikalische Leben Stockholms neu zu organisieren. In Wien machte er u.a. die Bekanntschaft mit seinem Idol Christoph Willibald Gluck, in Esterhaza traf er persönlich mit J. Haydn zusammen. Kraus sollte sich in dieser kurzen Zeit bis zu seinem Tod zur führenden musikalischen Gestalt der sog. Gustavianischen Epoche entwickeln.

Sein Grab trägt die Aufschrift: „Hier das Irdische von Kraus – Das Himmlische lebt in seinen Tönen“. Dass aber überhaupt ein wesentlicher Teil seines musikalischen Œuvres heute erhalten ist und somit aufgeführt werden kann, haben wir dem schwedischen Diplomaten Frederik Samuel Silverstolpe zu verdanken, der in Vorbereitung einer geplanten größeren Kraus-Biographie kurz nach Kraus‘ Tod viele weit verstreut liegende Kompositionen kopierte und seine Sammlung später der Universitätsbibliothek Uppsala vermachte. Nicht weniger als 37 Kompositionen, u.a. das Requiem und der Tod Jesu, sind singulär durch Silverstolpes wertvolle Musikaliensammlung überliefert.

Abbildung: Joseph Martin Kraus, Quintett für Flöte und Streicher (BoeK 184), Abschrift in DK-Kk (mu 6404.2266), RISM ID no. 150205112.

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