Musik für eine Weile… für mehr als 325 Jahre!
Chris Scobie (British Library) and Jennifer Ward (RISM Zentralredaktion)
Monday, November 23, 2020
Autograph manuscript of Henry Purcell’s Sonata in F major (Z. 810). BL Add MS 30930, f. 37v.
Der folgende Beitrag ist eine Gemeinschaftsproduktion der RISM Zentralredaktion und der British Library:
Als Henry Purcell starb (am 21. November 1695 - also am letzten Samstag vor 325 Jahren) war er vermutlich einer der bekanntesten Komponisten in England – geehrt mit einem Begräbnis an keinem geringeren Ort als der Westminster Abbey. Dass sein Ruf bis heute nachhallt, ist nicht zuletzt der Tatsache zu verdanken, dass seine Musik in Quellen erhalten ist, die im Laufe der Zeit interpretiert und neu interpretiert wurden.
Diese Zeugnisse von Purcells Musik kommen in verschiedenen Formen vor, von Partituren in der Hand des Komponisten bis hin zu gedruckten Ausgaben, die für eine größere Verbreitung produziert werden. Eine Vielzahl von handschriftlichen Kopien, die für alle möglichen Zwecke angefertigt wurden, bereichert die Geschichte noch mehr - und gibt uns oft einen Eindruck davon, wie die Musik von den Zeitgenossen des Komponisten tatsächlich gespielt wurde.Spätere Quellen können auch die verschiedenen Verbreitungs- und Transformationswege seiner Musik in den vergangenen Jahrhunderten aufzeigen, die die sich im Laufe der Zeit ändernden Geschmäcker und Standpunkte widerspiegeln. Von handschriftlichen Kopien von Dido and Aeneas aus dem 19. Jahrhundert bis hin zu Michael Tippetts und Benjamin Brittens Arrangements, all dies sagt uns etwas darüber, wie Purcell und seine Musik verstanden wurde - und liefert einen Kontext dafür, wie wir sie heute interpretieren.
Répertoire International des Sources Musicales (RISM) - Auffinden gedruckter und handschriftlicher musikalischer Quellen
Letzten Monat wurde der neue RISM UK-Online-Katalog gestartet und gibt jedermann die Möglichkeit, nach dem Standort von gedruckten und handschriftlichen Musikquellen aus der Zeit vor 1850 in Bibliotheken, Archiven und anderen Repositorien in ganz Großbritannien zu suchen (mehr Informationen in diesem Blog-Beitrag). Eine schnelle Suche nach Henry Purcell zeigt, dass reichlich Material im ganzen Land zu finden ist. Tatsächlich ist Purcell der Komponist mit der zweithöchsten Menge an Material, das in britischen Institutionen erhalten ist, nach Georg Friedrich Händel (mit Ausnahme des allgegenwärtigen Anonymus). Unter den mehr als 2.500 Ergebnissen befinden sich etwa 150 autographe Partituren. Die posthum veröffentlichte Sammlung von Liedern Purcells, Orpheus Britannicus, ist ebenfalls gut vertreten, mit Kopien des ersten und zweiten Bandes der Erstausgabe (1698 und 1702) in 19 bzw. 21 Institutionen - und mit der zweiten, erweiterten Auflage von 1706, nachgewiesen in sagenhaften 28 Institutionen.
Erstausgabe von ‘Orpheus Britannicus’, einer posthum veröffentlichten Sammlung von Liedern Purcells (1698). BL G.100.
Der RISM UK-Katalog ist eine Teilmenge des internationalen Katalogs, und dieser bietet eine Perspektive auf die Verbreitung von Purcells Musik weltweit – mit Material, das in ganz Europa sowie in Australien, Kanada, Japan, Neuseeland und den Vereinigten Staaten erhalten ist. Die Library of Congress (US-Wc) verfügt über die größte Anzahl von Purcell-Quellen außerhalb Großbritanniens, und tatsächlich handelt es sich bei etwa einem Dutzend dieser Quellen um gedruckte Ausgaben, die nur dort zu finden sind. Das Royal Conservatory of Belgium (B-Bc) beherbergt ebenso eine bedeutende Menge an Purcell-Quellen, vor allem Dank des Musiksammlers Guido Richard Wagener (1822-1896): in den Handschriftenanthologien mit den Signaturennummern 25590, 14981 und 15139 findet man Sonaten, Klavierstücke und Ouvertüren von Purcell.
‘Ah! Belinda’, gedruckt in Orpheus Britannicus. Der erste Teil von Purcells Oper Dido and Aeneas, der als Druck erschien. BL G.100.
Purcell in der British Library
Vor 25 Jahren stellte die British Library anlässlich des 300. Todestages von Purcell eine Ausstellung zusammen, und es ist großartig zu sehen, dass sie immer noch online zu finden ist – jetzt fast schon eine historische Quelle an sich! Zum Zeitpunkt der Ausstellung 1995 war eine relativ neue Erwerbung das neu entdeckte autographe Manuskript von Purcells Klaviermusik (MS Mus. 1). Dieses wurde zusammen mit zwei weiteren wichtigen Manuskriptquellen in Purcells eigener Hand im Jahr 2012 digitalisiert – ein Blog-Beitrag aus dieser Zeit liefert etwas mehr Informationen über diese wichtigen Bände. Seitdem haben wir auch die autographe Partitur von Purcells “The Yorkshire Feast Song”(Egerton MS 2956) digitalisiert.
Eine besonders stürmische Passage im autographen Manuskript von ‘The Yorkshire Feast Song’ (Z. 333). BL Egerton MS 2956, f. 13r.
Seit dieser Ausgabe der Klaviermusik in den 1990er Jahren gab es auch mehrere Neuerwerbungen im Zusammenhang mit Purcell – beispielsweise Kopien von Liedern aus ‘The Fairy Queen’, sowie zeitgenössische Kopien der Lieder ‘She who my poor heart possesses’ (Z. 415) und ‘Cease anxious world’ (Z. 362) (Mus. Dep. 2016/52).
Die jüngste Übernahme erfolgte im vergangenen Jahr. Dabei handelt es sich um einen beträchtlichen Musikband, meist für Flöte oder Violine, der die einzige bekannte Quelle für Purcells Sonate in g-Moll (Z. 780) enthält. Sie wartet derzeit auf die Aufmerksamkeit unseres Restaurierungsteams, aber dies scheint ein guter Zeitpunkt zu sein, sie vorzustellen und einen heimlichen Blick ins Innere zu werfen.
Henry Purcell, Sonata in g-Moll (Z. 780), kopiert von Edward Finch. BL MS Mus. 1851.
Der Band war im Laufe des 18. und 19. Jahrhunderts durch die Hände mehrerer Sammler gegangen und zuletzt in den frühen Jahren des 20. Jahrhunderts zu sehen gewesen, als eine Ausgabe des Purcell-Stückes, ganz im Stil der damaligen Zeit, erstellt wurde.
Frederick Bridge’s 1903 Ausgabe von Purcells Sonata in g-Moll (Z. 780).
Nachdem das Manuskript 1935 bei einer Auktion nicht verkauft werden konnte, verschwand es. Trotz der Versuche von Thurston Dart und anderen, das ursprüngliche Purcell-Stück zu rekonstruieren (frei von den Eigenheiten der Ausgabe aus dem frühen 20. Jahrhundert), blieb der Verbleib des Bandes bis 2012 ein Rätsel, als Peter Holman ihn im Spetchley Park fand.[1]
Es ist bekannt, dass der Band das Werk von zwei Personen ist: William Armstrong (gestorben 1717) und Edward Finch (1664-1738), beides gut vernetzte Persönlichkeiten im Musikleben des 17. und frühen 18. Jahrhunderts. Über William Armstrong ist nicht viel bekannt, aber er spielte sicherlich in den frühen Tagen der italienischen Oper am Haymarket-Theater, um 1710, Bratsche im Orchester, und wir wissen, dass er Anfang des 18. Jahrhunderts auch als Kopist für verschiedene Theater tätig war. Edward Finch stammte aus einer wohlhabenden Familie und scheint unter anderem ein versierter Spieler von Blasinstrumenten gewesen zu sein. Insbesondere war er ein relativ früher Anhänger der “deutschen Flöte”, dem Vorläufer der modernen Flöte (die Blockflöte, damals als “gemeine Flöte” oder “englische Flöte” bekannt, war zuvor populärer gewesen). Da sich ein Teil des Bandes in der Hand von Armstrong und der andere Teil in der Hand von Finch befindet, ist er als das “Armstrong-Finch”-Manuskript bekannt geworden. Der Band ist am Anfang auf 1691 datiert, aber es ist klar, dass Finch noch bis mindestens 1720 daran gearbeitet hat.
William Armstrongs Eintragung auf der Vorderseite des Bandes. BL MS Mus. 1851.
Eine Sonate, kopiert von Armstrong und Finchs characteristische Unterschrift, Weihnachten 1717.
Neben dem Purcell-Stück ist der Band als Ganzes vor allem wegen der Verbindungen zwischen Finch, Armstrong und einigen der prominenten Musiker interessant, die sie gekannt haben könnten und deren Musik in dem Band vertreten ist - von Purcell und Gottfried Finger bis Francesco Geminiani etwas später. Angesichts dieser Verbindungen ist der Band auch eine wichtige Informationsquelle über alle möglichen anderen Dinge, von der damaligen Verwendung von Verzierungen bis zur Etablierung der Flöte als beliebtes Instrument in Profi- und Amateurkreisen. Wir hoffen, wie Peter Holman in seinem einleitenden Artikel zum Manuskript sagt, dass es “noch lange Zeit seine Geheimnisse preisgeben wird”.[1]
Chris Scobie (Kurator, Musikhandschriften, British Library) und Jennifer Ward (Redakteurin, RISM Zentralredaktion)
Literaturhinweis:
[1] Holman, Peter (2012). ‘A Purcell manuscript lost and found’, in: Early Music. 40/3. pp.469-487.
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