‚Zoom in and find out‘: ein Gemälde, zwei Klavierstücke und der Konnex ‚London 1806‘

Sebastian Biesold

Thursday, August 7, 2025

Musikalien und Notate in der bildenden Kunst können verschiedenerlei sein: das Attribut eines Musikers, Komponisten oder Interpreten, ebenso wie ein piktorales Element, um einen musikalischen Kontext anzuzeigen oder einfach eine Musizierszene darzustellen. Das dabei auftretende Spektrum reicht von allgemeingehaltenen losen Notenblättern oder Bänden über nur angedeutete, nicht lesbare ‚Notenschrift‘ bis hin zur Abbildung realer musikalischer Werke. Die Dokumentation solcher Musikbezüge ist eine der zentralen Aufgaben des Répertoire International d’Iconographie Musicale (RIdIM; siehe auch die Website der Arbeitsstelle Deutschland). Eine kürzlich katalogisierte Entdeckung dieser Art betrifft ein kleinformatiges Aquarell des englischen Malers John Smart (1741–1811) von 1806, das heute im Victoria and Albert Museum London aufbewahrt wird (RIdIM ID no. 9852; die Website der V&A Collections bietet die Möglichkeit, das Kunstwerk in einem Image-Viewer mit Zoom-Option genauer zu betrachten).

Das Gemälde, ein querovales Doppelporträt, zeigt zwei Mädchen respektive junge Damen an einem Pianoforte (von Broadwood?)[1]: Bei der älteren, an der Tastatur, handelt es sich um Elizabeth Binny (auch Binney), bei der jüngeren um ihre Schwester Harriet, die dahinter sitzt. Beide tragen zeitgenössische hochtaillierte Kleider im Regency-Stil. Abgesehen von einem hellgrünen Vorhang, der locker zur Seite drapiert ist, verzichtet die Bildkomposition auf ein eigentliches ‚Setting‘. Zu sehen ist eine intime Szene, die dem übergeordneten Sujet des häuslichen Laienmusizierens, wie es bei Personen aus ‚gutem Hause‘ im England des 19. Jahrhunderts üblich war, zuzurechnen ist. Die aufgeschlagene Musikalie auf dem Pult des Instruments zeigt auf der rechten Seite den Beginn eines Stückes, wohingegen die linke Seite leer ist. Zudem hält Elizabeth in der rechten Hand ein einzelnes Notenblatt in ihrem Schoß, während ihre linke Hand auf der Klaviatur ruht und sie mit dem Daumen eine Taste anschlägt. Die Detailgenauigkeit und – mit Einschränkungen – Lesbarkeit der Notate wie auch der Paratexte – vor allem im Fall des Stücks auf dem Pult – warfen die Frage auf, ob es sich dabei um tatsächlich zu identifizierende Werke handeln könnte.

Anhand eines hochauflösenden Digitalisats war es möglich, das Bild stark zu vergrößern und genauer zu untersuchen. Die eingehende Beschäftigung mit der Musikalie auf dem Pult ergab zunächst, dass das Stück gemäß dem ungefähr lesbaren Titel oben auf der Seite ein „Rondo alla Tedesca“ zu sein scheint. Angesichts dieses Titels und des Kontexts, den das Bild vermittelt, tat sich schließlich folgende potenzielle Option auf: Rondo alla Tedesca, for the Piano Forte von einem Komponisten namens Henry Mathias und gewidmet Lady Anne Hamilton; der Eintrag der Druckausgabe in dem Copyright-Register von Stationers’ Hall London datiert auf den 11. November – nota bene – 1806 (RISM Catalog | RISM Online).

Das Ergebnis der unmittelbaren Gegenüberstellung ist durchaus faszinierend. Dank Smarts Fähigkeit, die wesentlichen Charakteristika des Notats – etwa Melodielinien, Tonrepetitionen, einzelne bzw. oktavverdoppelte Viertelnoten, Balkung und Halsung, Pausen und leere Takte – wiederzugeben, und zwar einerseits verbunden mit der für ihn typischen und von den Miniaturen her bekannten Präzision, ohne sich dabei andererseits aber in jedem einzelnen Strich oder Punkt zu verlieren, konnte die Identifikation letztlich bestätigt werden. Auch die Sekundärparameter wie die Tempo- und Dynamikangaben – einschließlich Crescendo- und Decrescendo-Gabeln – und Vortragsbezeichnungen sprechen zweifelsfrei dafür, obwohl einige davon nur in Form ihres visuellen Eindrucks angedeutet sind. Darüber hinaus ist spannend zu sehen, dass nicht nur die skripturale Fixierung der musikalischen Komposition abgebildet wurde, sondern exakt der Druck von 1806. So stimmen Details wie die Anzahl der Blätter, die Gestaltung des Titels und sogar die Anordnung der Takte und die Systemumbrüche bemerkenswert genau mit der Vorlage überein. Ein anderes Beispiel dieser – pointiert gesprochen – fast fotografischen Wiedergabe ist die Übernahme der Notierungsvarianten der ansonsten identischen Takte 21 und 37. Die einzige nennenswerte Abweichung betrifft das letzte System, das von der nächsten Seite des Drucks übernommen wurde, um den übriggebliebenen Platz zu füllen.

Wer der Komponist Henry Mathias war, ist jedoch nach wie vor unklar. Neben dem Rondo alla tedesca – dem jetzt allerersten RISM-Eintrag zu einem Stück von ihm – lassen sich noch zwei weitere Londoner Drucke mit Klavierkompositionen aus seiner Feder nachweisen: eine Folge von Variationen über die volkstümliche walisische Weise The Welsh Whim (1807, alternativ auch für Harfe; gewidmet Lady [Jane?] Porter) sowie Eight Waltzes (1808; gewidmet Lady Mary Taylor).[2] Es gibt Indizien, dass möglicherweise ein örtlicher Bezug zu Wales besteht – insbesondere zu Haverfordwest in Pembrokeshire –, wo der Familienname Mathias häufiger in verschiedenen lokalgeschichtlichen Zusammenhängen auftaucht. So sind beispielsweise zwei Personen mit dem Namen Henry Mathias in diesem Gebiet für den fraglichen Zeitraum belegt: Der eine, Sir Henry Mathias, lebte von 1756 bis 1832 und war Bürgermeister von Haverfordwest sowie High Sheriff von Pembrokeshire; der andere wurde 1776 in Cartlett, Haverfordwest, geboren und ist 1809 im Alter von 32 Jahren gestorben.[3] Ausgehend von den Publikationsdaten, dem Alter sowie dem Profil der Widmungen käme – wenn überhaupt – eher der jüngere von beiden als der gesuchte Komponist infrage. Der Rückgriff auf The Welsh Whim könnte daher eine bewusste Anspielung auf dessen regionale Herkunft gewesen sein; ebenso könnte das Rondo alla tedesca vielleicht eine Reminiszenz an die deutschen Wurzeln seiner Familie darstellen.

Das zweite Stück auf dem Gemälde ist durch den Klartextvermerk „Weolfl [sic] op. 36“ deutlich einfacher zu identifizieren. Gemeint ist die Grand Sonata, for the Piano Forte op. 36 von Joseph Woelfl (1773–1812), die in London bei Lavenu & Mitchell erschienen war und mit Datum vom 31. März, und zwar wiederum des Jahres 1806, bei Stationers’ Hall verzeichnet wurde (RISM Catalog | RISM Online). Obwohl sich auch auf diesem Blatt ein Notenfragment findet, scheint es hier nur zu Illustrationszwecken angebracht worden zu sein, zumal sich keinerlei Ähnlichkeiten oder gar Übereinstimmungen mit der Vorlage feststellen lassen. Unabhängig davon könnte der Verweis auf das Stück eine biografische Implikation haben. Woelfl, der in Salzburg geboren wurde und seine frühe musikalische Ausbildung in der Mozart-Familie erhalten hatte, war weit durch Mitteleuropa gereist, bevor er 1805 nach London kam, wo er sich ebenfalls als Pianist, Komponist und Lehrer etablierte. Unter seinen Schülern war nicht zuletzt wahrscheinlich auch die junge Elizabeth Binny. Tatsächlich widmete Woelfl später seine Sonate op. 41 Non plus ultra – ein Werk, das mit hochvirtuosen Variationen über „Freut euch des Lebens“ schließt – „Miss E. Binny“ (siehe z.B. den Druck von André, Offenbach: RISM Catalog | RISM Online, mit Link zu einem Digitalisat). Der Einbezug der Woelfl-Sonate auf dem Gemälde könnte somit auf eine persönliche, das heißt pädagogische Verbindung zwischen dem Komponisten und der Porträtierten hinweisen.

Für die freundliche kollegiale Zusammenarbeit im Rahmen dieses kleinen internationalen Projekts, das die Identität der Musikstücke einer Londoner ‚Momentaufnahme‘ aus dem Jahr 1806 ans Licht brachte und jetzt vollständig in den Datenbanken von RISM und RIdIM dokumentiert ist, danke ich: Dr. Ingrid Bodsch, Dr. Martina Falletta, Sean Ferguson, Prof. Dr. Margit Haider-Dechant, Susanna Kilian, Paul van Kuik, Dr. Leanne Langley, Dr. Balázs Mikusi und Damiët Schneeweisz.

Siehe hierzu ausführlicher: Sebastian Biesold, „Musical Treasures on an Early Nineteenth-Century Watercolour Painting – Identified as Henry Mathias’s Rondo alla Tedesca and Joseph Woelfl’s Grand Sonata op. 36“, in: Joseph-Woelfl-Almanach 2020/2021 (Bonn: Apollon Musikoffizin, 2024), S. 73–78.

Anmerkungen:

[1] Leanne Langley, „Pupils and Teachers: Woelfl’s Influence on Music Development in Nineteenth-Century England“, in: Joseph-Woelfl-Almanach 2020/2021 (Bonn: Apollon Musikoffizin, 2024), S. 235–246, hier S. 238.

[2] Erhaltene Exemplare z.B. in GB-Lbl, Hirsch M.1282.(13.), bzw. GB-Lbl, h.118.(18.); siehe Music Entries at Stationers’ Hall, 1710–1818, zusammengestellt von Michael Kassler, mit einem Vorwort von D. W. Krummel, Aldershot: Ashgate, 2004, S. 583 und 613.

[3] Siehe die entsprechenden Online-Einträge auf wikitree.com und genealogy.links.org (Zugriff am 22. Juli 2025).

Abbildungen:

Titelblatt und S. 3 aus Henry Mathias, Rondo alla Tedesca, London: for the author by Preston, [1806]. D-BNwh, WHS 2022/3. © Woelfl-Haus, Bonn. Verwendet mit freundlicher Genehmigung.

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Kategorie: Wiederendeckt


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