‘Die sieben letzten Worte unseres Erlösers am Kreuze’ von Haydn und Barbieri

Thursday, July 18, 2024

Ein ehrgeiziges Projekt zur Digitalisierung der Musiksammlungen der Spanischen Nationalbibliothek hat den Zugang zu 31.000 Musikquellen ermöglicht, die lange Zeit nur im Lesesaal zugänglich waren, und hat Musiker und Wissenschaftler zu neuen Entdeckungen inspiriert. Mit freundlicher Genehmigung der Bibliothek drucken wir hier einige Gedanken des Musikwissenschaftlers Francisco Javier Orellana Vallejo zu einem 1999 von der Bibliothek erworbenen Manuskript ab, das Joseph Haydns Die sieben letzten Worte (sign. MC/4634/3) in der Bearbeitung des Komponisten Francisco Asenjo Barbieri wiedergibt.

Die sieben letzten Worte unseres Erlösers am Kreuze sind ein weithin bekanntes Werk, dessen Ursprung der breiten Öffentlichkeit jedoch kaum bekannt ist. Bis vor kurzem glaubte man, das Werk sei vom Domkapitel von Cádiz in Auftrag gegeben worden. Dies wurde jedoch von Robert Stevenson und Marcelino Diez widerlegt, die zwar nicht in der Lage waren, den tatsächlichen Auftrag zu dokumentieren, jedoch nachweisen konnten, dass er nicht von der Kathedrale ausging. Vielmehr war das Werk für die untere Kapelle des Oratoriums Santa Cueva in derselben Stadt bestimmt. In dieser kleinen unterirdischen Kapelle fand jeden Karfreitagmorgen eine Meditation über die sieben letzten Worte Jesu Christi am Kreuz statt. Die Liturgie bestand darin, dass der Priester die sieben Sätze aussprach und zu jedem Satz eine kurze Predigt hielt, woraufhin eine Sonate zur Meditation der Gläubigen gespielt wurde, die der Bruderschaft der Alten Mutter angehörten, welche vor allem von Kaufleuten und dem Bürgertum gegründet und gebildet wurde.

Haydns Sieben letzte Worte wurden im Rahmen eines umfassenden Projekts zur “Ausschmückung” der beiden Kapellen des Oratoriums Santa Cueva in Auftrag gegeben, das vom Markgrafen von Valde-Íñigo initiiert worden war. Für die obere Kapelle wurden die prächtigsten Ornamente im neoklassizistischen Stil entworfen, darunter erlesene Gemälde von Francisco de Goya, während in der dunkleren unteren Kapelle die bestmögliche Musik die bereits erwähnten Meditationen über die Sieben letzten Worte begleiten sollte. Die dunkle Kapelle war zudem mit Tüchern verhängt, um das Sonnenlicht fernzuhalten, mit Ausnahme des Oberlichts, das die Skulpturengruppe des Kalvarienbergs beleuchtete. Für die Auftragskomposition, die ursprünglich für ein typisches Orchester der Zeit geschrieben wurde, nämlich ein Streicherensemble und Bläser in doppelter Besetzung: 2 Flöten, 2 Oboen, 2 Fagotte, 2 Hörner, 2 Trompeten und Pauken, wurden keine Kosten und Mühen gescheut. Diese erste Fassung (Hob. XX:1A - RISM Katalog | RISM Online) wurde 1787 veröffentlicht und am 27. März 1787 in Wien uraufgeführt, wahrscheinlich noch im selben Jahr oder sogar früher in Cádiz.

Die “Nachkommen” von Die sieben letzten Worte

Die enorme Popularität von Die sieben letzten Worte spiegelt sich in den “Nachfahren” wider: Eine große Zahl und Vielfalt von Bearbeitungen erschien bald nach der Erstveröffentlichung. Besonders intensiv war die Verbreitung nach der Veröffentlichung der Oratorienfassung 1801 (Hob. XX:2 - RISM Katalog | RISM Online), die sich rasch sowohl im kirchlichen als auch im konzertanten Repertoire etablierte. So entstanden schon früh eine Reihe von Bearbeitungen, die das Werk über seine ursprüngliche liturgische Funktion hinaus an unterschiedliche Kontexte anpasste. Die erste dieser Bearbeitungen für Streichquartett stammt von Haydn selbst, eine weitere für Cembalo oder Pianoforte folgte 1787.

Die Neukomposition der Sieben letzten Worte von Francisco Asenjo Barbieri basiert auf der Bearbeitung für Streichquartett, da in der Santa Cueva von Cádiz (mindestens seit Mitte des 19. Jahrhunderts) regelmäßig diese Version und nicht die ursprüngliche Orchesterfassung aufgeführt wurde. Man weiß sogar, dass das Quartett, um die dramatische Wirkung zu verstärken, neben der Skulptur des Kalvarienbergs spielte, allerdings vor den Augen der Gläubigen verborgen. Diese Fassung hörte auch Manuel de Falla in seiner Kindheit.

Es ist bemerkenswert, dass Haydn auch in dieser Bearbeitung für Streichquartett den Text jedes “Wortes” an die Instrumente anpasst, als ob er für Singstimmen schreiben würde. Die erste Violinstimme der ersten Sonate ist ein gutes Beispiel dafür: Das Instrument “singt” eindeutig die gesamte Phrase des ersten Wortes, was sich auch in der Bearbeitung für Tasteninstrumente widerspiegelt, die die gleiche Anpassung an den Text vornimmt. Obwohl Haydn den Auftrag hatte, ein Instrumentalwerk zu komponieren, hatte er offensichtlich den begleitenden Text vor Augen, der nicht nur als Träger der heiligen Worte, sondern auch der Gedanken des einzelnen Gläubigen verstanden wurde - ein Ansatz, der von seiner individuellen, wenn auch bürgerlichen Auffassung von Spiritualität zeugt.

Die Version von Francisco Asenjo Barbieri (1840)

Francisco Asenjo Barbieri

Als ich 2017 an der Universität von La Rioja über die zahlreichen “Nachfahren” von Haydns Sieben letzten Worte recherchierte, stieß ich auf die Fassung von Francisco Asenjo Barbieri, die ich dank der lobenswerten Digitalisierungsbemühungen der Spanischen Nationalbibliothek ausfindig machen konnte. Es handelt sich um eine handschriftliche Partitur vom 29. September 1840, die (wie oben erwähnt) auf der Bearbeitung für Streichquartett (Hob. XX:1B) basiert.

Francisco Asenjo Barbieri (1823-1894) war eine vielseitige Persönlichkeit der spanischen Musikromantik. Er war ein berühmter Zarzuela-Komponist, aber auch Musikwissenschaftler, Dirigent und Sammler. Sein reicher bibliographischer und musikalischer Nachlass kann heute in der Nationalbibliothek in Madrid eingesehen werden. Emilio Casares, zweifellos der bedeutendste Barbieri-Forscher, nannte ihn “die grundlegende Figur der spanischen Musikromantik”. Barbieri kopierte, studierte und dirigierte Haydns Werke und betrachtete ihn als Referenzkomponisten. Seine Leidenschaft für Haydn und seine Sammelleidenschaft werden in einem Brief von Antonio Barberán y Pacheco aus dem Jahr 1889 deutlich, in dem er Barbieri eine Kopie der originalen Orchesterfassung der Sieben letzten Worte von Haydns Hand anbietet. Leider wissen wir nichts über den Verbleib oder die Echtheit dieser Quelle.

Barbieri war 17 Jahre alt, als er die Partitur unterzeichnete, nur drei Jahre nach Beginn seines Musikstudiums bei Baltasar Saldoni und kurz nach Beginn seines Kompositionsstudiums bei Ramón Carnicer, den er zeitlebens als seinen Lehrer betrachtete.

Das auffälligste Merkmal von Barbieris Version ist die Hinzufügung einer Flötenstimme zu der Quartettbesetzung, und ebenso auffällig ist die Tatsache, dass diese fünfte Stimme (notiert im untersten Notensystem) Haydns Original von den ersten Takten an mit völlig anderem, neuem melodischem Material ergänzt. In der Regel füllt die Flöte die Pausen aus und tritt so in einen “Dialog” mit Haydns Musik. Tatsächlich ist Barbieris Beitrag so individuell, dass er selbst in den Passagen der Orchesterfassung, in denen die Flöte besondere Bedeutung erlangt, wie in der Sonate III, seinen eigenen Weg geht (wobei zu bedenken ist, dass Barbieris Ausgangspunkt die Bearbeitung für Streichquartett war).

Auch wenn die Flöte in einigen Passagen die erste Violine verdoppelt, kann man keinen Augenblick an Barbieris absolutem Respekt vor dem Original zweifeln, denn er verändert keine einzige Note Haydns. In einigen Passagen, z.B. in der IV. Sonate, kommt bestimmten Instrumenten eine besondere Bedeutung zu, und hier lässt Barbieri die Flöte gekonnt mit ihnen konferieren, vermeidet es aber gleichzeitig, diese Solopassagen zu überdecken, indem er das Blasinstrument danach geschickt zum Schweigen bringt.

Man könnte noch viele weitere Beispiele für die Meisterschaft des jungen Barbieri anführen, aber seine Kreativität zeigt sich vielleicht am deutlichsten am Anfang der Sonate V, wo er die Pizzicato-Melodie des Quartetts benutzt, um die Flöte frei singen zu lassen. Diese Sonate ist die einzige der sieben Sonaten ohne Vokalkorrespondenz (d.h. ohne einen der Musik hinzugefügten Text), eine Tatsache, die in der Oratorienfassung deutlich wird, der an dieser Stelle ein vom Chor zu singendes Incipit fehlt.

Insgesamt ist Barbieris Version insofern außergewöhnlich, als sie die einzige uns bekannte Bearbeitung ist, die völlig neues melodisches Material zusammen mit dem Original präsentiert, anstatt bereits vorhandene Motive zu überarbeiten oder traditionell die Flöte als Ersatz für die erste Violine zu verwenden. Man könnte es als ein Werk für eine konzertante Aufführung, als ein Werk für einen religiösen Kontext oder einfach als eine kompositorische Übung betrachten - die letztere Option ist die plausibelste, wenn man Barbieris Alter und seine persönliche Situation zur Zeit der Komposition in Betracht zieht.

Abbildung (oben): Partitur von Die sieben letzten Worte von Joseph Haydn in der Barbeitung von Francisco Asenjo Barbieri. (E-Mn MC/4634/3)

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Kategorie: Bibliotheksbestände


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