Ein numerisches Rätsel oder ein Chronogramm in einer Musikhandschrift
Ewa Hauptman-Fischer
Thursday, June 22, 2023
Den nachfolgenden Beitrag erhielten wir von Ewa Hauptman-Fischer (Universitätsbibliothek Warschau, Musiksammlung). Der Text erschien zuerst auf Polnisch im Blog der Universitätsbibliothek Warschau und wird hier mit freundlicher Genehmigung wiedergegeben.
Die anonyme Vesper — Vesperae ex D (PL-Wu, Signatur RM 5265) —, die in der Musikabteilung der Universitätsbibliothek Warschau aufbewahrt wird, ist eine von vielen Handschriften, die zur Musiksammlung des Klosters der Regularkanoniker des Lateran in Wrocław (ehemals Breslau) gehören. Sie enthält eine vokal-instrumentale Bearbeitung der Vesper: die Liturgie des Abendgebets, eine der kanonischen Stunden, die von den Chorherren im 18. Jahrhundert oft unter Mitwirkung eines Musikensembles aufgeführt wurde. Dieses Manuskript ist bemerkenswert, weil es ein Chronogramm enthält.
Ein Chronogramm ist ein Buchstaben- und Zahlenspiel, das vom Mittelalter bis zum Barock beliebt war. Bei einem Chronogramm werden die Buchstaben eines lateinischen Satzes so geschrieben, dass sie gleichzeitig als römische Ziffern interpretiert werden können. Chronogramme wurden meist zur Verschlüsselung von Daten in kurzen lateinischen Texten verwendet. Sie sind sowohl in privaten Schriften als auch in gedruckten Ausgaben zu finden.
In der vorliegenden Handschrift befindet sich das Chronogramm am Ende der Sopranstimme (Canto). Anstelle einer Unterschrift und eines Datums verweist der Kopist auf die ungewöhnlichen Ereignisse, die er zu dieser Zeit erlebte. Er verschleiert das Datum mit der folgenden lateinischen Formulierung:
Laus Deo. 27 Januarij. Anno qvô strepentibus undique ensibus, fatalis lux erat cometa
Wir können diesen Satz wie folgt übersetzen: “Gelobt sei der Herr. Am 27. Januar, dem Jahr, in dem - mit dem Klirren der Schwerter von überall her - das unglückliche Licht des Kometen erschien.”
Die Großbuchstaben stehen für römische Ziffern. Wenn man sie zusammenzählt, erhält man eine Zahl, die das Jahr angibt, in dem das Manuskript geschrieben wurde.
Wir überlassen es den Lesern, das Rätsel zu lösen! Unser Tipp: Sie können die römischen Ziffern in der Reihenfolge addieren, in der sie geschrieben wurden, oder Sie beginnen mit der Zahl mit dem höchsten Wert. Sie können das Datum auch in der RISM-Datenbank überprüfen (RISM ID no. 1001056844: RISM Catalog | RISM Online).
In jenem Jahr tauchten erstaunliche Kometenschweife am Himmel auf. Der Komet Klinkenberg - de Cheseaux, benannt nach zwei unabhängigen Forschern, wurde in Schlesien in einer für die Region schwierigen Zeit beobachtet. Ab 1740 war Schlesien Kriegsschauplatz zwischen der katholischen Habsburgermonarchie und dem protestantischen Preußen. Die Zivilbevölkerung litt sehr unter dem Konflikt; neben den Kämpfen wurde sie von kriegsbedingten Epidemien geplagt. In diesen turbulenten Zeiten erschien der Komet am Himmel - zunächst waren zwei Schweife zu sehen, später sogar sechs. Wir können nur vermuten, dass der Komet, der für die Astronomen eine wissenschaftliche Herausforderung darstellte, den einfachen Menschen Angst eingejagt haben mag. Und diese Unsicherheit und Angst spiegelt sich in dem Chronogramm wider, das in einem Musikmanuskript aus dem Kloster der Regularkanoniker des Lateran in Breslau niedergeschrieben ist.
Die Beobachtung des spektakulären Kometen, der mit bloßem Auge zu sehen war, war zu dieser Zeit ein beispielloses Ereignis. Der Komet wurde mit zwei in Schlesien geprägten Medaillen gewürdigt. Die Silbermedaille verewigte den Kometen mit sechs Schweifen vor einem sternenklaren Winterhimmel - das Datum der Erscheinung ist im Exergue eingeprägt. Auf der Rückseite der Medaille findet sich ein Zitat aus dem Römerbrief: “WER HAT DES HERRN SINN ERKANNT?” (Römer 11,34), was darauf hinweisen könnte, dass das Erscheinen des Kometen als übernatürliches und unbegreifliches Phänomen angesehen wurde.
Das in die Musikhandschrift eingetragene Chronogramm ist zwar flüchtiger und weniger haltbar als eine in Silber geprägte Medaille, zeugt aber ebenso von der Rezeption dieses außergewöhnlichen astronomischen Phänomens. Der Anblick des Kometen in den schwierigen Kriegszeiten weckte keinen Optimismus und verängstigte den Kopisten im Breslauer Chorherrenstift. Glücklicherweise kopierte er weiterhin Musikmanuskripte und überließ die Buchstaben-Zahlen-Rätsel einem heutigen Bibliothekar. Ein auf diese Weise geschriebenes Datum kann uns aus unserer Routine herausreißene.
Abbildung (oben): Anonymous, Vesperae ex D, Canto (PL-Wu, RM 5265). RISM ID no. 1001056844 (RISM Catalog | RISM Online). Fotos: Bartłomiej Karelin.
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