Frauen und Musikpraxis während der Bourbonischen Restauration
Emerson Morgan
Thursday, June 30, 2016
Emerson Morgan von der amerikanischen RISM-Arbeitsgruppean der Harvard University hat diesen Artikel über eine kürzlich für RISM katalogisierte Partitur verfasst, La naissance du sauveur (RISM ID no. 900022067).
Diese Handschrift einer einzigartigen Weihnachtskantate komponiert von einer Komponistin und einer Mäzenin gewidmet, bietet einen Einblick in die Praxis der Hausmusik während der Bourbonischen Restauration in den 1820er Jahren.
Marie-Caroline de Bourbon-Sicile, Herzogin von Berry (1798–1870), der die Kantate gewidmet ist, war Patronin für einige königliche Theater in Paris, auch für das Gymnase dramatique, das in der Zeit von 1824 bis 1830 in Anerkennung für ihre Unterstützung in Théâtre de Son Altesse royale, Madame, duchesse de Berry, bzw. Théâtre de Madame, umbenannt wurde (siehe Fußnote 1). Die Herzogin förderte auch Privatkonzerte: ein Beleg tauchte kürzlich auf, der zeigt, dass Marie-Caroline 200 Franc zur Unterstützung eines Konzertes des zwölfjährigen ungarischen Wunderkindes Franz Liszt zahlte, der der Herzogin von seinem Kompositionslehrer Ferdinando Paer vorgestellt wurde (siehe Fußnote 2).
Auf der gestochenen Titelseite der Handschrift befinden sich zwei handgeschriebene Zeilen, die einige Fragen über die Verbindung der Komponistin zum Umfeld der Widmungsträgerinaufwerfen. Ihre Identität wird durch diese Eintragung nur teilweise enthüllt: “Paroles et Musique par Made la Ctesse 8e[?] | de Chanaleilles de Lasaumès Née Gerbier”. Höchstwahrscheinlich handelt es sich bei der Komponistin um Madeleine Gerbier de Franville, über deren Biographie kaum etwas bekannt ist. Gesicherte Erkenntnisse zu ihrem Stammbaum: Tochter des Anwalts im französischen Parlament, Pierre-Jean-Baptiste Gerbier (1725–1788), und Ehefrau von Jean-Louis de Chanaleilles (1743–1822), Graf von La Saumès (siehe Fußnote 3). Diese Details sind trotz ihrer Knappheit der entscheidende Beleg für die Indentität der Autorin der Eintragung, denn mit der Heirat von Madeleine im Jahr 1780 wurde die Gerbier-Familie mit dem Haus von Chanaleilles und Lasaumès von Auvergne vereinigt.
Die Kantate ist mit vier solistischen Gesangs-Stimmen und einem Instrumental-Ensemble aus Flöte, Oboe und einem Tasteninstrument besetzt; zu Beginn ist zwar “pianoforte” angegeben, aber der Vermerk “jeu céleste” (Nr. 6) legt eine Besetzung mit Orgel nahe. Das Werk ist in zwei Abschnitte mit 21 Nummern untergliedert; die Solisten singen im ersten Teil (Nr. 1–11) in der Rolle von Engeln und im zweiten Teil (Nr. 12–21) als Schäfer, die den Aufruf beherzigen. Das Bild eines Krippenspiels wandelt sich mit der Einführung (Nr. 17) der Figur des “viellard … ancien Gaulois, étranger dans ces lieux” und der Anrufung der einheimischen “bois mystérieux du Gaulois révérés”.
Man kann verschlüsselte Verweise auf die Widmungsträgerin als fromme Marien-Figur finden: Der Gesang der Schäfer “comme l’étoile du matin vient proteger” (Nr. 10) lässt sich als Anspielung auf den Namen Marias im mittelalterlichen Hymnus Ave Maris Stella hören, ebenso die Parallelität “ô ma patrie … une autre marie” (Nr. 20).
Fußnoten Fußnote 1: Mark Everist, Music Drama at the Paris Odéon, 1824–1828 (Berkeley: University of California Press, 2002), S. 153 n29, 168.
Fußnote 2: Klára Hamburger, Unbekannte Liszt-Dokumente aus deutschen Bibliotheken, in: Studia musicologica: An International Journal of Musicology of the Hungarian Academy of Sciences, 53 (2012): S. 444.
Fußnote 3: Généalogie historique de la maison de Chanaleilles,… ([Paris:] Impr. de Bonaventure et Ducessois, 1856), S. 25. Via Gallica.
Abbildung 1: Titelseite “LA | Naissance | DU SAUVEUR. | CANTATE | à quatre voix avec des chœurs, | offerte à S. A. R. | M|e LA DUCHESSE DE Berry. | Paroles et Musique par Mad|e la C|t|e|s|s|e 8|e | de Chanaleilles de Lasaumès Née Gerbier”
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