Frühestes polyphones Musikwerk in British Library entdeckt
Monday, January 12, 2015
Der folgende Beitrag ist von Nicolas Bell und ist auf dem British Library Music Blog erschienen. Wir präsentieren ihn hier mit freundlicher Genehmigung der British Library.
Kann diese fremde verschlüsselte Nachricht die Geschichte der Chormusik wirklich neu schreiben? Lassen Sie uns einen näheren Blick darauf werfen:
Die Musik besteht aus einer am Ende eines kurzen Manuskripts über das Leben des Bischofs Maternianus von Riems (4. Jh.) geschriebenen kurzen Inschrift, aufgeschrieben im frühen 10. Jahrhundert. Als das Manuskript 1753 in die Harley-Sammlung (MS Harleys 3019) aufgenommen wurde, hat niemand diesem Gekritzel Aufmerksamkeit geschenkt: die Tatsache, dass unsere Vorgänger die Handschrift mit dem Bibliotheksstempel verunstalteten, ist bedauerlich, beweist aber auch, dass man die Bedeutung nicht kannte.
Das Musikstück wurde von Giovanni Varelli entdeckt. Er ist Doktorand in Cambridge und arbeitete während eines Praktikums an der British Library im Rahmen des Leonardo da Vinci-Programm der Universität von Pavia. Giovanni arbeitete sich systematisch an den Regalen entlang, um mittelalterliche musikalische Notationen zu suchen und dem Katalog der illuminierten Manuskripte der British Library Details hinzuzufügen, als er zufällig über diese Seite stolperte. Unten auf der Seite – die Risse im Pergament waren wohl schon vorhanden bevor der Text geschrieben wurde – sind zwei kurze Gesänge in Neumen des frühen 10. Jahrhunderts notiert, die den modernen Wissenschaftlern als paleofränkische Schreibweise bekannt ist.
Der erste Gesang ist eine Antiphon zu Ehren des Hl. Bonifaz, einem englischen Missionar, der das Christentum in vielen Teilen Deutschlands einführte. Der zweite Gesang Rex caelestium terrestrium ist eine allgemeinere Bitte um Erlösung. Das war eine sehr aufregende Entdeckung, weil die Zahl der überlieferten Manuskripte dieser sehr frühen Notation sehr begrenzt ist.
Interessant sind die fremden Muster von senkrechten Zeilen mit Strichen an ihren Oberseiten und Kreisen auf ihren Böden:
Eine nähere Betrachtung ergibt, dass diese Symbole zwei separate Stimmen darstellen - der (mit waagerechten Strichen gezeigte) obere Teil ist die Melodie vom ersten unten auf der Seite notierten Gesang, und die (mit Kreisen gezeigte) niedrigere Stimme singt harmonisch zur Melodie der ersten - eine allbekannte Organum-Übung. Die Tonhöhen werden wie in der modernen Notation dargestellt, durch ihre Höhe auf der Notenlinie: der einzige Unterschied ist, dass die Notenlinien im Pergament mit einem „trockenen stumpfen Stift“ gemacht wurden und praktisch unsichtbar sind. Die Buchstaben auf der linken Seite zeigen die Höhe an, auf welcher jede Note geschrieben ist - von a bis g - und die senkrechten Linien verbinden die zwei zusammen erklingenden Noten. Wenn beide Stimmen dieselbe Note singen, treffen die zwei Linien aufeinander. Das gebogene Zeichen auf der dritten Note von rechts im Ausschnitt oben zeigt eine verschmelzende Silbe im Text und bedeutet, dass die Buchstaben m und n mit geschlossenem Mund gesummt werden sollen: diese Zeichen werden auch in Verbindung mit den Buchstaben r, t und -gn- gefunden, eine Art von halbvokalisierter Ausführung. So übermittelt diese neu gefundene Schreibweise des 10. Jahrhunderts in der Tat einige Details, die subtiler und hoch entwickelter sind, als in der modernen Standardschreibweise mehr als ein Millennium später. Es ist Giovanni Varelli gelungen, dieses Stück in moderne Schreibweise zu transkribieren:
Alles spricht dafür, dass diese ungewöhnlichen Zeichen zur selben Zeit wie der Gesangstext am Ende der Seite in den frühen Jahrzehnten des 10. Jahrhunderts geschrieben wurden. Giovanni hat in einem detaillierteren Artikel über diese Entdeckung gezeigt, dass diese Notation der Schreibweise in einer zeitgenössischen musiktheoretischen Abhandlung sehr ähnlich ist (Manuskript in der Bibliothèque nationale de France, MS lat. 7202 - Abbildungen sind auf der Gallica-Website verfügbar). Andere vergleichbare Systeme für zwei- und dreistimmige polyphonische Gesänge wurden in anderen musiktheoretischen Manuskripten des 10. und auch des 9. Jahrhunderts gefunden. Was die Entdeckung des Manuskripts in der British Library so aufregend macht, ist dass es nicht Teil einer theoretischen Abhandlung ist: es ist der direkt Beweis einer tatsächlichen Aufführungstradition anstelle einer theoretischen Möglichkeit. Und in dieser Hinsicht handelt es sich um ein ein Jahrhundert älteres Dokument als der Winchester Troper, dass bisher das Manuskript der Anfangsgründe der polyphonen Musik darstellte.
Somit ist - innerhalb dieses besonderen Rahmens - dies das allererste Musikmanuskript in der Geschichte der Harmonie in der westlichen Tradition und lenkt unsere Kenntnisse von der Praxis dieser Tradition vom Jahr 1000 auf etwa 900.
Share Tweet EmailKategorie: Bibliotheksbestände