Vier Fassungen von Leonardo Leos Oper Demetrio

Roberto Scoccimarro

Thursday, July 10, 2025

Wie viele andere Opernkomponisten des 18. Jahrhunderts vertonte auch Leonardo Leo den Text eines bestimmten „dramma serio” mehrfach und schuf das Werk in verschiedenen musikalischen Versionen. Die verschiedenen Fassungen einer Oper zu ordnen, kann eine mühsame musikwissenschaftliche Aufgabe sein, da die verfügbaren Libretti nicht immer mit ebenso vielen musikalischen Quellen übereinstimmen. Eine besonders komplexe Herausforderung stellen die vier Vertonungen von Metastasios Demetrio dar, an denen Leo allein oder in Zusammenarbeit mit anderen Komponisten mitwirkte. Die genaue Übereinstimmung zwischen den musikalischen Quellen und den bekannten Versionen muss zwar noch rekonstruiert werden, doch dank der RISM-Datenbank und der Corago-Website, die Zugang zu digitalisierten Kopien unzähliger italienischer Opernlibretti bietet, kann die komplexe Situation nun mit einigem Erfolg entwirrt werden.

Leos erste Vertonung von Demetrio entstand im Jahr 1732, als der damals 38-jährige Komponist eigenhändig eine Oper für das Theater San Bartolomeo in Neapel schrieb. Von dieser Fassung ist ein Libretto dokumentiert, eine vollständige Partitur ist jedoch nicht erhalten geblieben. Eine vollständige Partitur wird in Mailand aufbewahrt (I-Mc Mus. Ms. Noseda F. 92; RISM ID no. 850741732 - RISM Catalog | RISM Online). Sie entspricht dem Libretto von 1732 bis zur Szene II, 5, nach dieser Szene ist der zweite Akt jedoch stark gekürzt und endet mit dem Duett „La destra ti chiedo” aus einem anderen „dramma serio” von Metastasio, Demofoonte. An dieser 1735 in Neapel aufgeführten Oper arbeitete Leo zusammen mit Francesco Mancini und Domenico Sarro. „La destra ti chiedo” stammt von Leo und wurde eine der bekanntesten Vertonungen dieses Textes im 18. Jahrhundert. Dies lässt vermuten, dass das Duett, nachdem es in Demofoonte aufgeführt worden war, bald darauf in der zweiten Fassung von Demetrio wieder aufgenommen wurde – einer sehr schlecht dokumentierten Fassung, die 1735 im Teatrino Ducale in Torremaggiore (Apulien) zur Hochzeit von Prinz Raimondo di Sangro von Sansevero und Donna Carlotta Gaetani von den Herzögen von Laurenzano aufgeführt wurde. Die Tatsache, dass die Partitur gekürzt wurde, scheint ebenfalls im Einklang mit diesem festlichen Anlass zu stehen, der eindeutig intimer war als die opulenten Opernabende der neapolitanischen Monarchie.

Die philologische Untersuchung der beiden in Paris (F-Pn) aufbewahrten Quellen MS-2254 und MS-2255 ist besonders schwierig. Letztere wurde bisher noch nicht mit einer Librettoquelle für Demetrio in Verbindung gebracht und entspricht vollständig dem Libretto von 1738, also der Pasticcio-Version. Zu den Mitwirkenden dieser Version gehörten neben Leo auch Giuseppe di Majo, Nicola Logroscino, Lorenzo Fago, der Tenor Angelo Amorevoli und Riccardo Broschi, der Bruder des berühmten Kastraten Farinelli. In MS-2255 (RISM ID no. 840019037 - RISM Catalog | RISM Online) stammt der erste Akt zweifellos aus Leos Feder, während in den beiden übrigen Akten mehrere Kopisten die Arbeit übernommen haben, Leo jedoch weiterhin mit einigen Anmerkungen als Supervisor der Partitur präsent ist. Ursprünglich war die Vertonung von 1738 allein Leo in Auftrag gegeben worden, doch aus Zeitgründen wurde die Aufgabe schließlich auf andere Kollegen ausgeweitet, was zu einem Gemeinschaftswerk führte.

Doch damit nicht genug der philologischen Komplikationen. Entgegen allen Erwartungen enthält MS-2254 (RISM ID no. 840019041 - RISM Catalog | RISM Online), dessen autographe Titelseite „La Simpatia del Sangue / 8bre 1737 / L. Leo” lautet, keine Musik aus der „commedia per musica” La simpatia del sangue von Pietro Trinchera und Leonardo Leo, die im Teatro Nuovo in Neapel aufgeführt wurde. Stattdessen enthält die Handschrift eine nicht identifizierte Sinfonie in F-Dur, drei Arien aus dem „dramma serio” Andromaca, vierzehn Arien aus Demetrio und eine Arie aus der „festa teatrale” Decebalo (alle komponiert von Leo) sowie ein Rezitativ und eine Arie aus einer nicht identifizierten Komposition. Von den Arien aus Demetrio erscheinen sechs im Libretto von 1732, eine im Libretto von 1742 und drei in beiden Libretti, während die übrigen aus verschiedenen Gründen keiner der bekannten Versionen zugeordnet werden können. Im Fall von MS-2254 scheinen die Musikstücke daher nicht zu einer einzigen Fassung zu gehören. Während die Fassung von 1738 mit Sicherheit identifiziert werden kann und die oben formulierte Hypothese für die Fassung von 1735 recht plausibel erscheint, bleibt ein Teil des komplexen Netzwerks von Quellen unklar. Werden in Zukunft vielleicht weitere Quellen auftauchen??

Abbildung: Leonardo Leo, La simpatia del sangue, Titelseite, Bibliothèque nationale de France (F-Pn 2254), Online verfügbar. Public domain

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