Ein außergewöhnliches musikalisches Wunderkind

Thursday, July 5, 2018

Dieser Spaniel ist nicht einfach auf den Klavierhocker gesprungen, um Alles, was das Instrument an Klängen erzeugt, jaulend zu kommentieren. Denn wenn wir dem Titel des Gemäldes “Portrait eines außergewöhnlich musikalischen Hundes” Glauben schenken dürfen, hat dieser Vierbeiner wirklich Talent. Der Künstler Philip Reinagle (1749-1833) zeigt einen Hund, dessen Pfoten schon auf den Tasten liegen, um aus der vorliegenden Musikhandschrift zu spielen. Er sieht aus, als ob man ihn beim Spielen ertappt hätte, vielleicht braucht er auch einfach nur Hilfe beim Umblättern.

Beim Tafelklavier handelt es sich wahrscheinlich um ein englisches Broadwood-Klavier, etwa aus dem Jahr 1795 und bei den Noten um “God Save the King” (passend zum abgebildeten King Charles Spaniel), allerdings fehlen beim Klavier Details, wie Saiten oder ein Name auf dem Namensschild. Angesichts dieser Diskrepanz zwischen Realität und Vorstellung - und ganz abgesehen davon, dass wir hier über einen klavierspielenden Hund reden - stellt sich die Frage, wie ernst kann/darf man das Thema dieses Kunstwerkes nehmen? Laurence Libin, der die oben genannten Details zum Klavier und der Musik 1998 in einem Artikel identifizierte, sieht eine mögliche Verbindung zwischen dem dressierten Hündchen und dem englischen Pianisten und Komponisten William Crotch (1775-1847), der heute vor 243 Jahren geboren wurde.

Crotch war ein musikalisches Wunderkind und konnte bereits im Alter von 1 1/2 Jahren überzeugend auf dem Klavier herumklimpern und im Alter von zwei Jahren gehörte “God Save the King” nachweislich zu seinem Repertoire. Noch vor Ende des Jahrzehnts spielte er im Buckingham Palast vor dem königlichen Paar und wurde sogar von Charles Burney erwähnt. Als Wunderkind war er bereits in ganz Großbritannien berühmt.

Als dieses Gemälde im Jahr spätestens im Jahr 1805 fertiggestellt wurde, war Crotch zwar schon erwachsen, aber beeindruckte noch immer; war er doch schon im Alter von 15 Jahren zum Organisten an die Christ Church in Oxford berufen worden und erlangte die Doktorwürde in Musik.

Libin vermutet, dass Reinagle dieses Wunderkind im Sinn hatte, auch wenn er zugibt, dafür keinen konkreten Beweis zu haben. Die Verbindung zwischen der Musikhandschrift im Gemälde und dem Repertoire des zweijährigen Crotch wäre aber durchaus reizvoll.

Crotch begann bereits im jungen Alter mit dem Komponieren. Das Oratorium The Captivity of Judah (ca. 1786) gehört zu seinen frühesten Werken und ein Autograph befindet sich in der British Library (GB-Lbl Add. 30388; RISM ID no. 806040275). Als Komponisten finden wir Crotch in der RISM-Datenbank über 40 Mal, überwiegend mit Quellen seiner geistlichen Werke und Anthems. In über hundert weiteren Quellen (suchen Sie nach Crotch in der Erweiterten Suche im Feld Weitere Personen) ist er als Kopist, Arrangeur und Vorbesitzer vermerkt. Seine Arrangements von Klavierstücken im zweiten Teil einer Handschrift, die sich im Besitz des Conservatoire royal de Bruxelles - Koninklijk Conservatorium Brussel (B-Bc) befindet, könnte einen Eindruck zu seinem Klavierstil vermitteln (RISM ID no. 703002174).

Auch wenn es bei RISM keine Arrangements von “God save the King” in F-Dur gibt (wie auf dem Gemälde), finden wir eine handvoll britischer Quellen (einschließlich vier für Tasteninstrumente), die uns zumindest eine Vorstellung geben, wie die Melodie vor 1800 geklungen haben mag.

Ist Reinagles Gemälde wirklich eine “verschleierte Satire” auf Crotch, wie Libin vermutet? Selbst wenn nicht, so Libin, kann das Bild durchaus als Kommentar zu den “dressierten” Wunderkindern der Zeit gesehen werden.

Quellen:

Laurence Libin, “Philip Reinagle’s ‘Extraordinary Musical Dog’,” Music in Art 23, no. 1/2 (Spring-Fall 1998): 97-100. Online verfügbar.

Nicholas Temperley und Simon Heighes, “Crotch, William,” Grove Music Online, retrieved 12 June 2018.

Abbildung: Philip Reinagle, Portrait of an Extraordinary Musical Dog, 1805. Virginia Museum of Fine Arts, Richmond. CC BY-NC. RIdIM record ID: 5041

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Kategorie: Jubiläen


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