Canzonette veneziane

Richard Andrewes

Thursday, October 25, 2018

Dieser Beitrag erschien zuerst im MusiCB3 Blog der Cambridge University (CC-BY):

Im vergangenen Oktober brachte der Musikantiquar Travis & Emery seinen Musikkatalog Sarum no. 58 heraus. Ein Punkt fiel mir sofort auf, weil ich im letzten Jahr die online-Einträge für zwei Sammlungen von venezianischen Volksliedern – also Lieder im venezianischen Dialekt - aktualisiert hatte.

70613. Canzonette Veneziane: Canzonette Veneziane, e Canoni. [Voice and bass accompaniment]. Oblong folio (22 x 29cm). 22 folios. Sewn in pink carta rustica with gilt paper edgings and decorations, manuscript paper title-label. Copyist’s manuscript in brown ink on 10-stave paper, with texts (verses) to the works on the opening four folios (unstaved). Contains: La mia Ninetta; Oh bella Nice; Putte vardeme inciera; Ogni donna; Amor Pettegola; Quel bianco sen de latte; Cento Basetti su quei occhietti. [Italy: c.1775]. £500

Beide Sammlungen, an denen ich gearbeitet hatte, sind Handschriften. Eine befindet sich in der University Library (MS.Add.9324.14) und enthält 49 Lieder, die andere ist im Fitzwilliam Museum (MU.MS.130) und enthält eine Sammlung von 50 ‘Canzonette Composte dal Sigr.e Angelo Collonna’. Die zweite Canzonetta daraus ist insofern ungewöhnlich, weil sehr, sehr wenige Lieder im venezianischen Dialekt einem Komponisten zugeschrieben werden, auch so einem unbekannten wie Angelo Colonna. Eine Suche in der RISM-Datenbank nach der ersten Zeile des ersten Songs im Travis & Emery Manuskript “La mia Ninetta” (als Ausdruck in Anführungszeichen) ergab jedoch ein überraschendes Ergebnis:

https://opac.rism.info/metaopac/start.do?View=rism

(Sorry, keine Treffer, also copy and paste (inklusive der Anführungszeichen) “La mia Ninetta” ins Suchfeld, Eingabetaste drücken – und man sieht 16 Vokalstücke von Mattia Vento).

Überraschung, sechs der im Travis & Emery-Katalog aufgeführten Titel erscheinen in fast der gleichen Reihenfolge (es fehlt Oh bella Nice und Putte vardeme inciera steht auf Platz drei anstatt am Ende), wie das (in RISM) Mattia Vento zugeschriebene Manuskript in der British Library:

16 songs for voice and harpsichord La mia Ninetta / Ogni donna / Amor pettegolo / Quel bianco sen / Cento basetti / Putte vardeme / Se ghe amor / Le donne gha un tesoro / Tutti va in colera / A variar l’e un gusto matto / Venezianella / Cornetti, cornettini / E spagnuoli e Siciliani / Quando sono tenerelli / Me tira a cantuzzarte / Quando vi sara gente

Das war faszinierend genug, um den Erwerb des Manuskripts zu rechtfertigen.

Nachdem es ankam, erhielt es die Signatur MS.Add.10246, wurde vollständig katalogisiert und es wurde eine ganz Menge Recherche betrieben, um festzustellen, ob die Musik mit dem Manuskript der British Library übereinstimmte (leider fehlt im RISM-Eintrag Musikincipits, so dass wir nicht sicher sein konnten, ohne zur British Library zu gehen und das Original anzusehen).

A page in the book

A page in the book

Der Vergleich bestätigt, dass jeder Eintrag in unserem Manuskript auch in der Handschrift des British Museum enthalten ist (Add.31758) und dass die Musik praktisch identisch ist. Unser Manuskript trägt den Titel “Canzonette veneziane e Canoni”, das der British Library hat ein Titelblatt “Ariette veneziane e duetti”. Unser Manuskript besteht aus 12 Cazonette/Ariette (für Stimme und unbezifferten Bass) und sechs Duette (für zwei Stimmen entweder mit oder ohne unbezifferten Bass), gefolgt von zwei Opernarien im Klavierauszug (Stimme und Bass) (“Quando vi sara gente” und “Una piccolo bambinella”), während die British Library die gleichen 12 Arietten hat, gefolgt von 12 Duetten und Liedern, deren erste sechs Duette die gleichen sind wie in Cambridge. Es folgen zwei Versionen (reduzierte Partitur auf zwei Notensystemen für Alt in E-Dur und eine Partitur für Alt und Streichorchester in A-Dur) von Cambridges erster Opernarie (“Quando vi sara gente”, das für Tenor und Bass in A-Dur steht).

Book cover

Keine der Arietten oder Duette in Add.31758 sind zugeschreiben außer das letzte Werk. Die Partitur der Arie “Quando vi sara gente” ist überschrieben “In S. Moise 1763 – Del Sigr. Mattia Vento”.

1993 erwarb die UL zufällig eine große Sammlung von Mikrofilmen “Venetian opera libretti : a microfilm of Raccolta de’ drammi : a collection of 1,286 opera libretti held by the University of California, Los Angeles”, eine chronologische Sammlung von Libretti, die zwischen 1638 und 1769 veröffentlicht wurden. In dem Band für 1763 war ein Libretto zu L’egiziana(Aufführung im Teatro San Moise mit Musik von Mattia Vento) und dem Text der Arie “Quando vi sara gente” (Akt 2, Szene 7), was die Zuschreibung doppelt bestätigt.

Leider ist die Zuschreibung der Arietten und Duette an Mattia Vento in RISM, die aus dem 1908 von Augustus Hughes-Hughes veröffentlichten Catalogue of manuscript music in the British Museum stammt, nicht korrekt.* Obwohl alle Arietten anonym überliefert sind, werden einige der Duette in der RISM-Datenbank Nicolo Jomelli und Filippo Ruge zugeschrieben.

Der letzte eintrag im Cambridge Manuskript ist die Arie “Una piccola bambinella”, die sehr interessant ist, auch wenn die letzte Seite fehlt (siehe Abbildung).

Das sehr selten verwendete Wort ‘bambinella’ führt zu drei Treffern in der RISM-Datenbank, von denen einer eine Konkordanz (mit Musikincipit) zu unserer Arie bringt.

https://opac.rism.info/metaopac/start.do?View=rism

(Auch hier gibt es keinen Treffer zu den Suchergebnissen, geben Sie bambinella in den Suchfilter ein und drücken die Eingabetaste.)

Es handelt sich um eine Arie aus einer komischen Oper von Baldassare Galuppi auf einen Text von Carlo Goldoni, zwei der wichtigsten und produktivsten venezianischen Komponisten und Schriftsteller Mitte des 18. Jahrhunderts. Die Arie stammt aus der Oper I bagni d’Abano, die im Februar 1753 im Teatro San Samuele aufgeführt wurde.

Obwohl Galuppis Musik populär und in ganz Europa verbreitet war, ist es unwahrscheinlich, dass die Opern von di Vento nach den ersten Aufführungen sehr viel Beachtung gefunden haben. Es ist daher anzunehmen, dass sowohl die Londoner als auch die Cambridge-Kopie dieser Sammlungen kurz nach 1763 entstanden. In beiden Manuskripten (Papierqualität, Wasserzeichen oder Schreiber) gibt es nichts, was auf ein späteres Datum hinweist.

Richard Andrewes

*Anmerkung von RISM: Die Zuschreibung wurde in den RISM-Datensätzen geändert.

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Kategorie: Bibliotheksbestände


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